
© Chas Pidlotu
Ukraine-Filme auf der Berlinale: Tausend Kilometer bis zur Front
Zwei ukrainische Dokumentarfilme in der Forum-Reihe erzählen vom Krieg aus großer Distanz. Dabei bringen sie die Geduld auf, umso genauer hinzusehen.
Stand:
Es gibt Filme, in die fällt man am besten hinein, ohne zu wissen, worum genau es geht, unbehelligt von jeder Ankündigung, jeder Erwartung. Und Festivals sind genau der richtige Ort dafür. Filme, in die man hineinfallen kann und aus denen man verändert wieder auftaucht, sind nicht selten lang. „When Lightning Flashes Over the Sea“ von Eva Neymann ist nur etwas über zwei Stunden, Witaly Manskys „Time to the Target“ dauert drei. Aber das macht nichts. Erfahrungen brauchen Zeit, man spricht nicht von ungefähr von „Zeit-Räumen“.
In beiden Dokumentarfilmen geht es um die Ukraine. Einer spielt ausschließlich in Lwiw, Lemberg, der andere in Odessa. Beide Städte sind 799 Kilometer voneinander entfernt, mit dem Fernbus braucht man fast vierzehn Stunden.
Sie haben eine völlig unterschiedliche Geschichte und sind sich doch verblüffend ähnlich. Noch 1930 waren mehr als die Hälfte der Bewohner Lembergs Polen, ein Drittel Juden und der Rest Ukrainer. Um die 2000 jedoch war Lemberg die einzige Stadt der Ukraine, in der vor allem Ukrainisch gesprochen wurde. Der Regisseur Witaly Mansky wurde 1963 in Lemberg geboren, dort ist er aufgewachsen, in Moskau hat er studiert.
Für diesen Film ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt, für drei Jahre. Drei Kriegsjahre. Aber was weiß die westlichste Stadt der Ukraine vom Krieg? Die Frontlinie ist über 1000 km entfernt. Sie weiß viel. Vielleicht auch, weil manchmal im halben Frieden, im halben Krieg besonders begreifbar wird, was beides bedeutet. Frühmorgendliche Straßenszenen in dieser Stadt, die noch immer den k.u.k.-Charme der Habsburger Zeit atmet. Schon aus Volker Koepps wunderbarem Film „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ von 1999 meint man diese Stadt zu kennen.
Aber Mansky zeigt sie völlig anders: Musiker reden wohl wie überall auf der Welt vor einer Vormittagsprobe. Da wissen sie noch nicht, dass sie in den nächsten Jahren vor allem auf Beerdigungen spielen werden. Es ist eine Militärkapelle. Kurz vor der ukrainischen Hymne bricht Manski ab, um genau zu beobachten, wie ein Plakat gedruckt wird: Es ist eine große Todesanzeige. Auch die Druckerei wird viel ungewohnte Arbeit haben in den nächsten Jahren. Und dann eine junge Frau der Selfie-Generation im Gaze-Kleid, mit der Straßenbahn posierend.
Die Menschen wandeln auf Knochen
Was diesen Film so sehenswert macht, ist die Präzision seiner Beobachtungen, die Aufmerksamkeit für scheinbar nebensächlichste Details. Und bloß keine Angst vor Kontrasten! Das haben beide Filme gemeinsam. Und noch etwas. Sie erklären gar nichts. Sehen ist alles.
Natürlich lässt Manskiy seinen Film von der Schwere der ukrainischen Trauermärsche tragen, von der Kraft ihrer Hymne und patriotischen Lieder. Es ist eine viel ursprünglichere Trauerkultur. Als die Wagen mit den ersten Gefallenen aus Lwiw zu Trompetenklängen durch die Straßen gefahren werden, bleiben die Passanten stehen, wenden sich zu den Särgen und legen wie auf ein Zeichen, das keiner gibt, die rechte Hand aufs Herz.
Ohne die Totengräber auf dem Soldatenfriedhof von Lemberg fehlte Manskys „Time to the Target“ aber eine ganz entscheidende Ebene, dabei durfte er kaum voraussetzen, auf gesteigertes Mitteilungsbedürfnis zu stoßen. Aber dass erst die Sowjetunion die Österreicher exhumiert hat, um ihren eigenen Ehrenhain zu schaffen, worauf nun die Ukrainer... „Wir gehen auf Knochen“, sagt einer in sichtlicher Gewissensnot. Und die wird sich steigern.
Drei Stunden sind genug Zeit, um die ukrainischen Soldatengräber zu jeder Jahres- und Tageszeit zu betrachten, und immer länger schaut die Kamera in die Gesichter der viel zu jungen Toten, ihre Fotos auf den Gräbern. Auch das ist Manskis Film: ein großer, schöner, stiller Nachruf auf viel zu viele. Mit blinkenden Lichterketten zu Weihnachten, aber vor allem in einem Meer von blau-gelben Fahnen. Und dieses Meer wächst.
In „When Lightning Flashes over the Sea“ der deutsch-ukrainischen Regisseurin Eva Neymann wird das Meer erst fast am Ende zur Mit-Hauptdarstellerin, dabei liegt Odessa am Strand. Und darum hat Katharina die Große es gegründet, nachdem sie die ganze Küste den Türken weggenommen hatte: um einen großen Militärhafen zu bauen. Und doch war die Stadt dahinter bald auf ähnliche Weise kosmopolitisch wie Lemberg. Und das lag nicht zuletzt an dem hohen Anteil jüdischer Bevölkerung, deren Sprache sogar die der Russen hier färbte.
Zu einer der berührendsten Szenen in Eva Neymanns wunderbarem Film gehört das Selbstgespräch einer sehr alten Frau, die sich an ihre Kindheit erinnert und dabei unvermittelt ins Jiddische fällt. Nicht nur bei ihr liegen die Perserteppiche nicht auf dem Fußboden, sondern auf dem Sofa und über den Schränken. Ihre Kindheit? Das war, als die Familie täglich darauf wartete, von den Deutschen erschossen zu werden. Ihre Kindheit war das, was trotzdem geschah.
Am Ende spricht sie vor Erschöpfung im Liegen weiter, wie ein Kind, das auf dem Sofa einschläft, und dann folgt ein altes jiddisches Wiegenlied. Da weiß man längst, was all die Menschen in diesem Film verbindet: Sie reden über ihre Träume, über Alb- und Wunschträume und die anderen, mitten im Krieg, jung und alt. Was für eine zarte, fragile Idee für einen Dokumentarfilm! Wer meint, dass all das nichts mit dem Krieg zu tun hat, irrt.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: