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Frances McDormand spielt im Löwen-Gewinner „Nomadland“ eine Amerikanerin, die in der Rezession alles verliert.

© Searchlight

Filmfestspiele in Venedig: US-Drama „Nomadland“ gewinnt Goldenen Löwen

Das Venedig Filmfestival geht unter Corona-Bedingungen über die Bühne. Es überwiegt Erleichterung. Am Ende war es ein Sieg für das Kino.

Von Andreas Busche

Um die Rituale eines Filmfestivals kam man auch bei der 77. Ausgabe der „Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica“ in Venedig nicht ganz herum, die coronabedingt in der Biennale-Geschichte einen besonderen Platz einnehmen wird.

Spekulationen über die Hauptpreise bestimmten wie jedes Jahr die Gespräche an der Strandbar, dem Festival-Hotspot, oder abends in den Restaurants. Doch unter den gegebenen Umständen war die Frage, welcher Film die besten Chancen auf den Goldenen Löwen hat, eigentlich fast nachrangig.

Für die Anwesenden zählte einzig und allein, dass die Filmfestspiele überhaupt stattfinden konnten. Und dass sich aus den liegen gebliebenen Resten aus Berlin und Cannes sowie einigen Filmen, die sich während des Lockdowns bereits in der Postproduktion befanden, am Ende ein passables Programm zusammenstellen ließ. Oberste Priorität war, nach einem knappen halben Jahr Pause und Vorsicht die Lust auf das Kino, die Aufregung sozialer Interaktionen neu zu entfachen.

Hollywood schickt nur einen Film nach Venedig

Vorab war viel darüber geschrieben worden, dass die US-Studios, die Venedig zuletzt als Werbeplattform für ihre Oscar-Kampagnen benutzt haben, dem Festival in diesem Jahr die kalte Schulter gezeigt haben.

Vielleicht war es daher eine versöhnliche Geste, dass die Jury aus der Vorsitzenden Cate Blanchett, Christian Petzold, Ludivine Sagnier sowie den Regisseurinnen Veronika Franz und Joanna Hogg mit „Nomadland“ von Chloé Zhao die einzige US-Studioproduktion mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet hat.

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Die chinesische Regisseurin, die in ihren Filmen (das Rodeodrama „The Rider“ lief 2018 in den deutschen Kinos) mit dokumentarischen Mitteln arbeitet, bedient einen sehr typischen amerikanischen Indie-Sozialrealismus. Ihr stilles Porträt einer Frau (Frances McDormand), die in der Rezession alles verliert und im Campingwagen durch den Mittleren Westen fährt, trifft aber einen nuancierten Ton in den Beschreibungen des gegenwärtigen Amerikas.

„Nomadland“ ist ein moderner Western, voller Mythen über die Unverwüstlichkeit des Pioniergeists, nur ohne die dem Genre eigene Verklärung. Die eigentliche Sensation ist jedoch McDormand, die entgegen ihrer Gewohnheit zurückgenommen, fast in sich gekehrt spielt. Der Goldene Löwe kommt im Grunde mit Ansage, aber es ist auch eine vertretbare Entscheidung. Im Gegensatz zu einigen anderen Preisen.

Kunstgewerbe und Schockeffekte

Über den Regiepreis für den arg kunstgewerblichen Spionagefilm „Wife of a Spy“ des Genrefilmers Kiyoshi Kurosawa kann man streiten. Der japanische Regisseur, ein Venedig-Stammgast, hat schon interessantere, auch weniger konventionelle Filme gemacht als dieses Ausstattungskino.

Der Spezialpreis der Jury für „Dear Comrades“ des russischen Veteranen Andrei Kontschalowski ist angesichts des Alters des Regisseurs, er wurde gerade 83, eine schöne Geschichte. Auch wenn sein Film über einen Arbeiteraufstand, den Militär und KGB 1962 blutig niederschlugen, im klassizistischen Sovo-Schwarz-Weiß keine cineastische Offenbarung war.

Preisträgerin Vanessa Kirby wird für ihre Rolle in "Pieces of a Woman" ausgezeichnet.
Preisträgerin Vanessa Kirby wird für ihre Rolle in "Pieces of a Woman" ausgezeichnet.

© Guglielmo Mangiapane/Reuters

Wirklich ärgerlich ist dagegen der Große Preis der Jury für die höchst spekulative Gesellschaftskritik „Nuevo orden“ des mexikanischen Regisseurs Michel Franco. Ein Aufstand der indigenen Unterschicht schlägt in einen Militärputsch um, eine Familie aus der Oberschicht, die die Hochzeit der Tochter feiert, wird in ihrer Luxusfestung belagert. Die Braut in spe gerät dabei in die Hände von abtrünnigen Soldaten, die als Nebengschäft mit Folter und Mord Lösegeld erpressen.

„Nuevo orden“ ist mit Abstand der niederträchtigste Film, weil er sich den Anschein eines politischen Bewusstseins gibt, am Ende aber selbst die Anliegen der ausgebeuteten Klasse für Schockeffekte diskreditiert. Es ist eine nihilistische Weltsicht, virtuos und kalt gefilmt.

Preisträgerin Vanessa Kirby spielt in zwei Filmen

Doch die Preise passen in den diesjährigen Wettbewerb, der erstaunlich düster ausfiel. Kriege, soziale Ungerechtigkeit, politische Konflikte – und selbst wenn ein Film mal in die Privatsphäre vorstieß wie Kornél Mundruczós Beziehungsdrama „Pieces of a Woman“, wirkten selbstzerstörerische Kräfte. Das englischsprachige Debüt des Ungarn gehörte auch zu den wenigen Filmen, die die kontrollierte Betriebstemperatur dieses Jahrgangs anheizten.

Ein junges Ehepaar (Vanessa Kirby, Shia LaBeouf) verliert sein Baby bei der Geburt. Der Tod setzt eine emotionale Tour de Force in Gang, die Mundruczó so physisch inszeniert, dass die Menschen und ihre persönliche Tragödie fast zu Spielbällen des Regisseurs werden.

Vanessa Kirby wurde dafür zu recht mit dem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet (das männliche Pendant ging an Pierfrancesco Favino in „Padrenostro“ über die „bleiernen“ Siebziger in Italien) – wohl auch weil sie in Mona Fastvolds lesbischen Siedlerinnendrama „The World to Come“ eine zweite grandiose Hauptrolle spielt. Beide Filme könnten unterschiedlicher kaum sein, Kirby ist allein schon wegen ihrer darstellerischen Bandbreite preiswürdig. Außerdem beschert ihr Auftritt der Gala am Ende doch noch etwas Hollywood-Glamour.

Der deutsche Beitrag geht leer aus

Gleich mehrere Filme handeln in diesem Jahr von verlorenen Kindern. Der Nachwuchspreis folgt daher einer gewissen Logik, er geht an das Ensemble des iranischen Films „Sun Children“ von Majid Majidi. Eine Gruppe Kinder soll für einen lokalen Gangsterboss einen Schatz bergen. Doch darüber hinaus will Majidi nichts über die Gesellschaft mit ihren durch den Krieg abwesenden Eltern erzählen. Immer wieder nur blicken verzweifelte, wütende Kinderaugen in die Kamera.

Die Schauspielerin Shamila Shirzad gewinnt mit dem Ensemble von "Sun Children" den Nachwuchspreis.
Die Schauspielerin Shamila Shirzad gewinnt mit dem Ensemble von "Sun Children" den Nachwuchspreis.

© Joel C Ryan/dpa

Das stärkste Bild des Festivals liefert Gianfranco Rosi („Seefeuer“) mit „Notturno“, gedreht im Grenzland von Syrien, Kurdistan und dem Irak. Seine Alltagsbeobachtungen im Kriegszustand bleiben zwar irritierend stilisiert, mitunter voyeuristisch. Aber eine Szene brennt sich ins Gedächtnis. Und wieder geht es um Kinder.

Schüler malen ihre Erinnerungen an den Bürgerkrieg, das Ergebnis des therapeutischen Projekts erschüttert: eine Wand voller Buntstiftzeichnungen, eine grausamer als die andere. Rosi geht trotzdem leer aus, genauso wie die deutsche Regisseurin Julia von Heinz mit ihrem Antifa-Film „Und morgen die ganze Welt“.

Venedig 2020 ist ein Kollektiverfolg

Versöhnlich ist hingegen, dass Chaitanya Tamhane mit dem heimlichen Kritikerliebling „The Disciple“ den Drehbuchpreis gewinnt. Der indische Regisseur taucht in die Philosophie des Raga-Gesangs ein, findet trotz seines speziellen Sujets aber zu einer offenen Erzählung über Vaterkonflikte, Disziplin, Lebensziele und Traditionsbewusstsein. Visuell öffnet Tamhane mit seinem meditativen Bilderfluss ebenfalls Welten, ohne den ironischen Blick auf seinen perfektionistischen Protagonisten zu verlieren.

Disziplin ist in diesem Corona-Jahrgang ohnehin das Stichwort. Bis zum letzten Festivaltag gab es (offiziell) keine Infektionsfälle. Da rückt sogar der Goldene Löwe fast in den Hintergrund. Das Filmfestival von Venedig ist, auch wenn es ein wenig pathetisch klingt, ein Sieg für das Kino. Ein Kollektiverfolg, von Festival, Filmschaffenden und Publikum.

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