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Kultur: Flucht in die Hölle

Roman Polanskis „Der Pianist“ erinnert an die Juden im Polen des Zweiten Weltkriegs – und antwortet nebenbei auf Hollywood: Der Film kommt fast ohne Pathos aus. In Cannes bekam er dafür dieses Jahr die Goldene Palme

Zweifellos haben die, die Polanskis Neuesten enttäuschend konventionell finden und jene, die sagen, er sei meisterhaft, beide recht. Der Film ist meisterhaft, weil er konventionell ist und weil er einen nicht täuscht. Er lockt nicht mit Polanskischen Stilmitteln wie Absurdität, Horror und Surrealismus. Derlei passt für die schein-normale Lebenswelt – ist der Gegenstand aber selbst schon ein Abgrund, weit jenseits der Kategorien von Realismus und Surrealismus angesiedelt, dann ist jede Stilisierung streng genommen nur als Täuschung zu verstehen. Dann liegt es nahe, ein möglichst deutliches Bild zu zeichnen: ohne mit ästhetischen Brüchen, spektakulären Sondereffekten und pädagogischer Zuspitzung die Betrachter wohlig-voyeuristisch zu konditionieren. Derlei übernehmen die Realität im Fernsehen und der Markt der Schocker-Filme ohnehin.

Aber halt: Sahen dies Steven Spielberg und Kollegen in ihren Hollywood-Holocaust-Dramatisierungen nicht anders? Sollte man nicht mitfiebern, bis kein Auge trocken bleibt? In Polanskis ästhetisch aufwendigem und das ganze menschliche Gefühlsspektrum abdeckenden Film vergießt man keine Träne. Allein weil dieser Ausweg nicht angeboten wird: Diese Hand zur physischen Entlastung und kollektiven Regression wird einem nicht gereicht.

Roman Polanski hatte den Zweiten Weltkrieg als Film-Sujet bislang stets vermieden. Spielbergs Angebot zur Regie von „Schindlers Liste“ lehnte er ab. Als Kind verbrachte er Jahre im Krakauer Ghetto, seine Mutter starb in Auschwitz, die Warschauer Bombennächte kannte er aus eigener Anschauung. „So weit ich zurückdenken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen.“ Auch die Verfilmung seines eigenen Lebens – die Autobiografie wurde ein Bestseller – schloss er aus. Dennoch: Mit fast 70 in einem Alter, wo man sich der Vergangenheit stellt, suchte Polanski einen Stoff, der nah dran war an der eigenen Geschichte. Mit den Memoiren des polnischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (neu aufgelegt als „Der Pianist“ bei Ullstein) hatte er ihn.

Szpilman, der beim Polnischen Rundfunk als Pianist lokalen Ruhm genoss, war Student zweier Schüler von Franz Liszt gewesen und hatte in Berlin an der Hochschule der Künste bei Arthur Schnabel studiert. Als der Film 1939 beginnt, ist er 28. Er lebt mit Eltern und Geschwistern in einer gutbürgerlichen Wohnung in Warschau und ist Teil der dortigen 360000 Juden, die ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachen. Beim Ausbruch des Krieges ist Warschau eins der ersten Bombenziele und binnen kurzem in der Hand der Deutschen.

In den typisch bürgerlichen Alltag Szpilmans bricht umstandslos eine neue Realität ein. Die Sanktionen gegen die jüdische Bevölkerung beginnen unspektakulär und folgen dann Schlag auf Schlag. Konfiszierung des Vermögens, Verlust bürgerlicher Rechte, Hungern, Pflicht zum Tragen des Davidsterns, öffentliche Willkürakte, das Einschließen einer halben Million Juden im Ghetto und die finale Vertreibung auch aus diesem höllischen Refugium. Diese Stationen werden aus der Sicht einer betroffenen Familie sachlich und mit Einblendung von Monats- und Jahreszahlen dokumentiert. Der nüchterne Ton wirkt zunächst „konventionell“, doch Polanskis Pathos liegt in den optischen Details (Kamera: der Andrzej Wajda-Kameramann Pawel Edelman). Nicht nur widmete er sich akribisch der Ausstattung (dass er die Spezialisten von „Schindlers Liste“ dafür beschäftigte, wurde ihm verschiedentlich vorgeworfen), nicht nur sind die Statistenheere handverlesen. Polanski verlegt die Dramen des Alltags vor allem in die Gesichter und Gesten: in nuancierte, nie dramatisierte Reaktionen.

Idealer Protagonist für diese Strategie der Präzisierung statt Überwältigung ist der Hauptdarsteller Adrien Brody. Für viele tauchte er erstmals in Ken Loachs „Bread and Roses“ auf: In seinen Zügen mischen sich Bescheidenheit, Humor, Pathos-freie Leidensfähigkeit und eine eher versehentliche Schönheit (man denkt an George Tabori in jung). Zudem macht er vor der Kamera – man glaubt es schlicht nicht – einfach nichts falsch. Dieser Mann scheint so vollständig seinem Instinkt zu folgen, dass er, etwa als er auf dem Umschlagplatz vor der Juden-Deportation zwischen den leidenden Menschen herumgeht, zu improvisieren scheint. Jedes Gesicht, mit dem er kurz spricht, scheint er erstmals zu sehen und sich von ihm gefangennehmen zu lassen. Brodys Nuanciertheit verlangt vom Beobachter Subtileres als Identifikation: Aufmerksamkeit. Genau dies ist Polanskis Programm.

Dokumentiert die erste Hälfte jene Stationen, in denen sich die tödliche Schlinge um die Juden Warschaus zusammenzieht, gilt die zweite einem individuellen Überlebenskampf: lange Sequenzen ohne ein Wort. Szpilman, durch wahnwitzigen Zufall in letzter Sekunde der Deportation entkommen, harrt von nun an über Jahre in unterschiedlichsten Jobs und Verstecken aus: vielfach auf Hilfe von außen angewiesen. Als Beteiligter an der Vorbereitung zum Ghetto-Aufstand flieht er und landet in einer Wohnung an der Mauer: Von dort kann er die Kämpfe sehen. Zuletzt ins menschenleere Ghetto geflüchtet, in eine wahnsinnige Ruinenlandschaft (mit Hilfe digitaler Techniken wird Polanski überzeugend surreal), nistet sich in seinem Versteck ein Stab deutschen Militärs ein. Der Offizier Hosenfeld (Thomas Kretschmann) entdeckt ihn; statt ihn zu töten lässt er ihn Klavier spielen – eine Schlüsselszene des Films. Am Ende sehen wir Hosenfeld gefangen – und Spzilman wird, wie zu Beginn, Chopins Nocturne in cis-moll spielen: das Werk eines 19jährigen. Es ist der erste Moment in drei Stunden Ausnahmesituation – Moment der Sicherheit und der Musik –, in dem man mit den Tränen kämpft. Das allein ist schon exzeptionell.

Polanski wollte einen Film „so realistisch wie möglich, er sollte sich in nichts der üblichen Hollywood-Machart annähern“. Abgesehen von der Expressivität der Bilder trifft das zu. So kommt dieses Werk, auch über die Macht der Musik, meist ohne Filmmusik aus: Gerade in ihrer Kargheit ist die Tonspur hoch expressiv. Generell ist Polanskis Ton trocken und voll Pathos, persönlich und objektivierend: ein Oxymoron nach dem anderen drängt sich auf. So liegen die stärksten Szenen in jenen Details mit surrealen Elementen, die gerade in ihrer dokumentarischen Art aufwühlend sind: der Verrückte mit Zigarette etwa im Ghetto, der scherzhaft die Besatzer provoziert, und sie witzeln zurück und erschießen ihn nicht. Auch derlei „Kunst“ am Rande ist in Sachen Personenführung stets meisterhaft inszeniert.

Polanski sorgt dafür, dass der Zuschauer sich nicht mit Geist oder Emotionen, sondern mit dem Raum-Empfinden des eigenen Körpers orientiert. Die Suggestionskraft seiner Bilder und ihrer Räume ist so stark, dass man – etwa wenn Szpilman nach monatelangem Eingeschlossensein wieder einmal ein Versteck unter größtem Risiko verlässt – jede neue Freiheit physisch selbst wie eine Befreiung erlebt. Lockende, gefährlich weite Räume erstrecken sich vor den Augen: zum Verfallen. Auf diese „trockene“ Art vollzieht man das Geschehen direkt mit, ohne Umweg über archetypische Emotionen. In diesem Kniff liegt Polanskis Größe – und nach der ersten Enttäuschung, dass man kaum kathartisch „geläutert“ aus dem langen Film kommt, breitet sich für diese Chance Dankbarkeit aus.

Ab Donnerstag im Cinema Paris, Cinemaxx Potsdamer Platz, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Passage und Odeon (OmU)

Simone Mahrenholz

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