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Hilfe, was tun? In Karin Beiers „Schiff der Träume“ mischen schwarze Performer das weiße Ensemble auf. Szene mit Kathrin Wehlisch und Sayouba Sigue. Das Stück eröffnete das diesjährige Berliner Theatertreffen.

© Markus Scholz/dpa

Flüchtlinge und Kultur: Was bringt es Flüchtlingen, wenn sie auf der Bühne stehen?

Unermüdlich engagieren sich Kulturschaffende in Deutschland für Flüchtlinge. Ein Essay.

Erst neulich wieder, bei der Eröffnung des Theatertreffens, sah sich das deutsche Kulturpublikum mit sich selbst konfrontiert. Die Flüchtlingsfrage mag Familien, Freundeskreise, die ganze Gesellschaft spalten, aber wir hier stehen zusammen. Finden uns wieder in Karin Beiers Hamburger Thalia-Inszenierung „Schiff der Träume“, in dieser dekadenten Trauergesellschaft auf dem Kreuzfahrtschiff, die von ein paar Bootsflüchtlingen aufgemischt wird. „Eure Probleme möchten wir haben“, rufen sie den Gutmenschen zu. Und kaum sind die schwarzen Performer auf der Bühne, ist ganz schön was los. Action, Publikumsbeschimpfung, Improtheater, Hauptsache Havarie. Und das Theater ersäuft, in besten Absichten.

Havarie ist überhaupt das Europa-Bild der Stunde. Hier das kenternde Boot, da der Luxusliner, dessen Passagiere in ihrem sorglosen Kurs gestört werden. Hier die pure Vitalität, die von Krieg, Elend und Tod bedroht ist, dort das sterbende Bürgertum, das Energiezufuhr braucht.

Da sind Menschen wirklich in Not, und was macht die Kultur? Betreibt Selbstbespiegelung. Auf der Berlinale lief der Film „Havarie“, in dem der Dokumentarist Philip Scheffner sich diesen Blick vom Kreuzfahrtschiff auf das Flüchtlingsboot im Mittelmeer auf andere Weise vornimmt und ein dreiminütiges Handy-Video auf Spielfilmlänge dehnt. Das Meer ist herrlich blau, und es soll bitte schnell jemand helfen – eine Revision in Slowmotion. Sie hatte den Vorteil, dass sie weniger Betroffenheit produzierte als Fragen. Über die Inflation solcher Nachrichtenbilder und die überforderte Vorstellungskraft.

Europa macht seine Grenzen dicht, die Kultur reißt die Türen weit auf

Flüchtlinge auf der Bühne, auf der Leinwand, in der Literatur, es ist schwer in Mode, nicht erst seit Angela Merkels Mantra „Wir schaffen das“. Schon 2015 mischten reale Geflüchtete als Laiendarsteller die Eröffnung des Theatertreffens auf, in Nicolas Stemanns „Die Schutzbefohlenen“. Und dieses Jahr ist auch „Morgenland“ von Miriam Tscholl aus der Pegida-Stadt Dresden ins Haus der Berliner Festspiele eingeladen: Menschen aus Syrien, Ägypten, Tunesien und den Palästinensergebieten erzählen ihr Leben. Sind sie Darsteller oder einfach sie selbst? Schon da wird das Theater oft ungenau.

Wir schaffen das: Was der Politik nicht gelingt, die Künste sollen es richten. Europa macht seine Grenzen dicht, die Kultur reißt die Türen weit auf, sucht Einmütigkeit und betreibt Integration auf der Probebühne. Meist geht es polyglott zu dabei. Man hofft auf eine Art Pfingstwunder: dass die Völker, dass Europa und die Geflüchteten sich endlich verstehen.

Denen eine Stimme geben, die in der Öffentlichkeit sonst keine haben, sie aus dem Schatten ins Rampenlicht holen – es ist seit jeher auch eine Aufgabe der Künste. Aber was genau geschieht, wenn sie sich der dringlichsten aller Gegenwartsfragen annehmen, wie es in letzter Zeit so häufig geschieht? Was kann die Kultur ausrichten außer moralischen Appellen, Solidaritätsgesten und – oft stereotyper – Selbstkritik der Saturierten, die immer auch ein diffuses schlechtes Gewissen beruhigt? Der Theaterbesuch wird zum Bußgang: Die Geflüchteten da oben lesen uns Europäern da unten die Leviten, denn Kolonialismus und Kapitalismus haben die aktuellen Völkerwanderungen ja mitverursacht. Allzu schlimm wird es nicht, denn wir betrachten das Ganze ja aus sicherer Warte – dem Zuschauerraum. Hinterher erteilen wir uns die Absolution.

Es gibt viele Theater, Museen und Orchester, die praktische Hilfe leisten

Eigentlich ist solcher Sarkasmus fehl am Platz. Denn warum eigentlich nicht: Empathie ist das Privileg der Kultur. Ohne Teilhabe, den Clash des Eigenen mit dem Anderen und die Vision einer offenen Gesellschaft wäre sie armselig. Es ist gut, wenn auch staatliche Bühnen ganz praktisch helfen, wenn Theater- und Museumsleute sich als Bürger engagieren, wenn das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg oder das DT in Berlin Notunterkünfte bereitstellen. Wenn die Staatsoper und das Gorki Spenden sammeln, die Kulturstaatsministerin Preise für Flüchtlingsprojekte vergibt, das Haus der Kulturen der Welt eine interaktive Berlin-Map mit Anlaufstellen für Geflüchtete ins Netz stellt und Kongresse veranstaltet. Und im Deutschen Historischen Museum eröffnet nächste Woche eine Ausstellung über Deutschland als Einwanderungsland.

In einem sich längst wieder abschottenden Europa, in Zeiten von AfD-Wahlerfolgen und Attacken auf Flüchtlingsheime kann es gar nicht genug Willkommenskultur geben. Es sind symbolische Gesten, aber sie können Wirkkraft entfalten. Also gibt es Begegnungskonzerte, spielen Starsolisten vor Flüchtlingen, der Cellist Yo-Yo Ma im Januar in München, der Pianist Igor Levit letzten Herbst in Hannover.

Levit, der in den 90er Jahren selber mit seiner Familie als „Kontingentflüchtling“ aus Nischni Nowgorod hierherkam, wird nicht müde, sich für die Zufluchtsuchenden und gegen die Ausländerfeinde auszusprechen. Aber er sagt im Gespräch auch, dass solche Konzerte eine Einbahnstraße bleiben. Er spielt „Karneval der Tiere“, jemand erklärt Saint-Saëns’ Werk auf Arabisch, aber wo die Zuhörer herkommen, wer sie sind und welche Sprache sie sprechen, das erfährt man nicht. Hinterher werden sie mit Bussen wieder in ihre Unterkunft gebracht. Als ein Tagesspiegel-Kollege einen geflüchteten Syrer zum Willkommenskonzert der drei Berliner Spitzenorchester begleitete, schlief dieser in der Philharmonie ein. Der 18-Jährige hatte vorher über zehn Stunden in der Schlange vor dem Lageso gestanden.

Gilt der Applaus für Flüchtlingsfilme nicht auch dem eigenen Mitgefühl?

Einerseits steht die Kultur unter Realitätsschock und neigt zum Aktionismus – was aber keinem schadet. Andererseits zielt die Willkommenskultur schnell an den Adressaten vorbei. Weniger bei den konkreten Kooperationen, etwa wenn im Pergamon-Museum Geflüchtete aus dem Mittleren Osten Führungen anbieten, bei denen sie die Schätze aus ihrer Heimat in der Landessprache erläutern: Das ändert den Blick auf das Ishtar-Tor. Auch nicht bei den Tandem-Partnerschaften von Kultur- und Flüchtlingseinrichtungen beim Netzwerk berlin-mondiale.de. Mit kleinen Fördersummen arbeiten das HAU, die Neuköllner Oper, die Kunst-Werke, die Sophiensäle und andere mit Asylunterkünften zusammen, organisieren Märchen-Workshops, Soundprojekte, Filmabende, Schneidercafés. Niedrigschwellige Angebote, meist für Kinder und Jugendliche. Das Publikum bleibt erst mal außen vor.

In der Realität kann die Kultur oft nichts ausrichten

Wenn die Kunst ihr Engagement jedoch vor das große Auditorium bringt und Flüchtlingsschicksale als Stoff verarbeitet, beschleicht einen nicht selten ein Unbehagen. Wegen des voyeuristischen Moments und der erwähnten Selbstbespiegelung, für die die Geflüchteten auf der Bühne herhalten müssen.

Letztes Jahr gewann in Cannes ein Flüchtlingsfilm die Goldene Palme, „Dheepan“ von Jacques Audiard. Dieses Jahr gewann auf der Berlinale Gianfranco Rosis Lampedusa-Dokumentarfilm „Fuocoammare“ den Goldenen Bären, ebenfalls ein Flüchtlingsfilm. Gelungene, integre Werke, jedoch nicht die besten des jeweiligen Festivals. Die Begeisterung war trotzdem groß. Aber gilt der Applaus nicht auch dem eigenen Mitgefühl? Übertönt er die Ohnmacht der Kunst?

In der Realität kann die Kultur oft nichts ausrichten. Bekanntestes Berliner Beispiel: Als der Laiendarsteller Nazif Mujić, in Deutschland Asyl beantragte, nachdem er 2013 einen Silbernen Berlinale-Bären gewann, sorgte das Festival für juristischen Beistand. Trotzdem musste Mujić mit seiner Familie, die im Film mitspielt und wie er der Roma-Minderheit angehört, wieder nach Bosnien zurück. Es gilt seit November 2014 als sicheres Herkunftsland.

Was bitte erhellen die plakativen Aktionen von Ai Weiwei?

Dieses Jahr häuften sich auf der Berlinale die Flüchtlings-Dokumentarfilme, in gleich mehreren Produktionen überließen die Regisseure die Kamera den Migranten. Es ist nicht das Schlechteste, wenn die Kunst sich bei der Reaktion auf die aktuellen Schlagzeilen zunächst dokumentarischer Mittel bedient. Wenn sie Zeugnis gibt, zeigt, erzählt, individualisiert. Auch die postmigrantischen Stücke im Maxim Gorki Theater basieren auf Biografiearbeit. Das sind die nachhaltigen, tiefer schürfenden Projekte – eine neue Dramaturgie, mitten im Stadttheaterbetrieb.

Auch Selbst- und Sprachreflexion stehen den Künsten gut an, nur sollten sich Ästhetik und Erkenntnis nicht darin erschöpfen. Was bitte erhellen die überwiegend plakativen Aktionen des chinesischen Konzeptkunst-Stars Ai Weiwei? Das Berliner Konzerthaus funktionierte er zum Mahnmal um, indem er dessen Säulen effektvoll mit 14 000 Rettungsschwimmwesten umhüllte. Ein Selbstzitat. Ähnlich hatte Ai Weiwei schon die Fassade des Münchner Hauses der Kunst 2009 mit Schulranzen behängt. Sie gehörten Kindern, die beim Erdbeben von Sichuan ums Leben kamen. Die gleichen ästhetischen Mittel für derart unterschiedliche Tragödien? Damit droht die Kunst, sich an den Agitprop, den Kitsch zu verraten. Ai Weiwei hat zudem das Bild des toten Jungen Ailan am Strand von Lesbos nachinszeniert, mit sich selbst anstelle des Flüchtlingkinds. Auch das eine identifikatorische Pose, die kaum über sich hinausweist.

Der Kulturbürger gönnt sich abends etwas staatlich geförderte Betroffenheit

Fragwürdig auch die Performances der Aktionsgruppe „Zentrum für politische Schönheit“. Deren Pseudo-Bestattung echter Mittelmeer-Toter in Berlin, die eigens in Sizilien exhumiert worden waren, traf der Vorwurf einer effekthascherischen Störung der Totenruhe. Vor allem aber handelte sich um die schwächere Kopie der Realität. Wenn die Kunst so schnell, so aufrüttelnd sein will wie die Wirklichkeit, hat sie das Nachsehen.

Große Aufregung verursachte im Winter der lettische, in Paris lebende Regisseur Alvis Hermanis, als er eine geplante Inszenierung am Hamburger Thalia Theater absagte. Seine Begründung: Er wolle nicht an diesem „Refugee Welcome Center“ arbeiten. Nicht alle Flüchtlinge, so Hermanis, seien Terroristen, aber die Terroristen seien Flüchtlinge oder deren Kinder.

Damit kündigte der für feinsinnige Tschechow- und Gorki-Inszenierungen bekannte Regisseur einen Konsens auf: die Übereinkunft, dass Theater ein Ort der Katharsis ist, des Mitgefühls. Künstler, das macht der Fall Hermanis wieder klar, sind keine besseren Menschen. Dennoch steckte in seinen kruden Ausführungen ein Gran Wahrheit. Der Kulturbürger leistet sich nach Feierabend etwas staatlich geförderte Betroffenheit – und die Kunst selber besorgt sich von der Flüchtlingskrise Relevanz und Authentizität.

Beobachten oder Eingreifen, Intervention oder Introspektion, es ist eine alte Frage. Anfang Juni kommt Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“ ins Kino, über Stefan Zweig im Exil. Als Ehrengast beim Pen-Kongress 1936 in Buenos Aires weigert sich der Schriftsteller beharrlich, Hitler in einem druckreifen Manifest zu verurteilen. Zweig verteidigt die Differenziertheit der Literatur, die der Radikalität der Nazi-Realität nicht beikommen könne. Der engagierte Künstler, es bleibt eine Kluft, ein Dilemma.

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