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Schlussapplaus bei der Premiere von „Norma“ an der Berliner Staatsoper.

© Jakob Tillmann

Freie Sicht in Oper und Konzert: Dahinter steckt immer ein kluger Kopf

Für einen Kritiker bin ich zu groß geraten. Darum versperre ich bei Live-Aufführungen häufig den Menschen, die hinter mir sitzen, die Sicht auf die Bühne. Das tut mir leid.

Eine Kolumne von Frederik Hanssen

Stand:

Ich möchte mich entschuldigen. Bei allen, die in den vergangenen 35 Jahren hinter mir gesessen haben. Ich bin nämlich eigentlich zu groß gewachsen für klassische Konzertsäle und historische Opernhäuser. Gäbe es für meinen Beruf so strenge Einstellungsvoraussetzungen wie für Flugbegleiter, ich hätte niemals Kritiker werden können.

Wie sehr der Kunstgenuss eingeschränkt wird, wenn einem der Vordermann das Sichtfeld versperrt, habe ich, siehe oben, selten am eigenen Leib zu spüren bekommen. Neulich aber saß in der Komischen Oper ein echter Riese vor mir - ausgerechnet in einer Vorstellung von „Echnaton“, Philip Glass‘ Oper über den ägyptischen Pharao, der sich immer mit übertrieben langgezogenem Kopf darstellen ließ.  

Je enger die Reihen, desto herausragender bin ich

Im Kino versinke ich stets so weit wie möglich in meinem Sessel. In der Oper und im Konzertsaal geht das nicht, weil die Sitzreihen hier viel enger gestellt sind. Oft reicht der Platz für mich nicht einmal, um meine Knie ganz normal im rechten Winkel unterzubringen. Ich nenne das die „Toter-Hahn-Position“.

Als ich mich jüngst in dieser Stellung im seitlichen 1. Rang der Staatsoper für einen langen „Parsifal“-Abend zurechtruckelte, bemitleidete mich mein Sitznachbar. Wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er sich keine Aufführung des wagnerschen „Bühnenweihfestspiels“ entgehen lässt und überhaupt ein musiktheatralischer Hochfrequenzbesucher ist – mit sehr dezidierten Ansichten, wo die Akustik jeweils am besten sei. Nämlich ganz oben, ganz hinten, Unter den Linden wie auch in der Deutschen Oper.

Meinen Einwand, dort sei man dann allerdings auch sehr weit weg vom szenischen Geschehen, wollte er nicht gelten lassen: „Ich schließe sowieso immer die Augen“, entgegnete er resolut. „Bei den Regie-Exzessen heutzutage mag ich schon lange nicht mehr zuschauen.“

Vielleicht hätten wir Telefonnummern austauschen sollen. Um uns künftig bei der Platzwahl zu koordinieren, wenn wir beide dieselbe Opernvorstellung besuchen: Er wäre mein idealer Hintermann.

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