zum Hauptinhalt
Karl Schlögel, Historiker und Publizist, bei seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

© dpa/Michael Probst

Friedenspreis an Karl Schlögel verliehen: „Ein zu allem entschlossener Aggressor lässt sich nicht mit Worten aufhalten.“

Weitsicht eines Bürgers: Der Historiker Karl Schlögel legt in seiner Dankesrede für den Friedenspreis dar, was Europa von der Ukraine lernen kann.

Stand:

Es ist die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die in der Frankfurter Paulskirche gleich zu Beginn ihrer wundervollen Laudatio auf den diesjährigen Friedenspreisträger Karl Schlögel offenbart, wie sehr diesen der Überfall der Russen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erschüttert hat.

Ein paar Tage nach der russischen Attacke habe er, so Petrowskaja, auf einer Kundgebung auf dem Berliner Bebelplatz gestanden, nahe vor der Bühne, eingehüllt in eine ukrainische Flagge, später sollte Schlögel dort eine Rede halten: „Er stand einsam da, stützte sich auf die Absperrung – und weinte.“

Tränen der Bestürzung

Wer Schlögel in den vergangenen Tagen bei der Frankfurter Buchmesse erlebt hat – bei der sogenannten Literaturgala mit Denis Scheck und Thea Dorn, bei der traditionellen Friedenspreispressekonferenz oder schon in den Wochen zuvor bei Interviews -, der oder die ahnt, dass Petrowskaja an diesem Sonntagvormittag nicht des Effekts halber übertreibt, sondern es genau so gewesen ist. Schlögel wirkt, als trage er schwer unter der Last dieses nun schon bald vier Jahre währenden Konflikts, als habe sich dieser Krieg tief in seine Haltung, Stimme und Physiognomie eingeschrieben.

Gewandet in ein blaues Sakko und eine schwarze Anzughose, nach den üblichen Dankesworten, dem Dank auch für die vorangegangenen Reden von Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef und Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, spricht Karl Schlögel gleich vom „Ungeheuerlichsten“, das passiert sei. Ja, dass diese Verleihung unter zeitlichen Umständen stattfinde, „da einem mit Blick auf die neue Weltunordnung die Grenzen der eigenen Urteilskraft auf schmerzlichste Weise zu Bewusstsein kommen.“ Schlögel zitiert Walter Benjamin: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg“, und reiht sich damit ein in viele Friedenspreisverleihungen des vergangenen Jahrzehnts.

Navid Kermani hatte 2015 angemahnt, dass sich der Westen zum Syrienkonflikt und den Untaten des IS womöglich auch militärisch verhalten müsse; der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan war 2022 nicht um die Frage herumgekommen, ob Europa wirklich bereit sei für die neue Kriegswirklichkeit; und die amerikanische Historikerin Anne Applebaum urteilte vergangenes Jahr, dass der Pazifismus, nicht zuletzt jener deutscher Prägung, nur Putin helfe.

Es verschlägt einem die Sprache, was vor sich geht.

Karl Schlögel, Historiker und Friedenspreisträger

Am Ende seiner Rede in der Paulskirche wird Karl Schlögel sagen, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer „uns beibringen, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat.“ Doch geht es ihm zunächst mehr darum, wie wichtig es sei, Kriege zu verstehen, an ihre Ursprünge zu gelangen, um so Friedensprozesse in Gang setzen zu können. Spätestens seit 2014 habe er die Überzeugung, dass man immer wieder vorn beginnen müsse. Inzwischen würden ihm jedoch „in tiefer Ratlosigkeit die Worte fehlen, mit denen man verstehen kann, was unter unseren Augen vor sich geht. (…) Es verschlägt einem die Sprache, was vor sich geht.“

Realer Krieg in der Nachbarschaft

Schlögel sagt nicht gern „Ich“, auch nicht in seinen Büchern, sondern benutzt häufig das unpersönlichere, distanzierende „man“. Doch kommt er gerade in seiner Dankesrede nicht umhin, „Ich“ zu sagen, um seine Verblüffung über die Ereignisse der vergangenen Jahre auszudrücken: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, dessen Erforschung ich Jahre meines Lebens gewidmet hatte.“

Unvorstellbar für ihn auch die Entwicklungen in den USA unter Trump sowie in Deutschland: „Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte.“ Und noch einmal der Wahnsinn des Kriegs, der Unglaube, dass dieser „etwas Reales in der nächsten Nachbarschaft werden könnte.“

Nach den Interviews, die er in den vergangenen Jahren gegeben hat, nach den Essays in seinem neuen Buch „Auf der Sandbank der Zeit“, enthält Schlögels Rede nicht unbedingt Neuigkeiten, gar Überraschungen. Sie ist eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse und Erfahrungen vor allem seit 2014. Aber auch seine eigene Vita von Jugend an bezieht Schlögel mit ein und erklärt, wie seine „Entdeckungsfahrt“ in eine Gegend begann, durch das östliche Europa, „für das man sich damals im Nachkriegsdeutschland nicht sonderlich interessierte oder meist nur unter dem Aspekt der Feindbeobachtung.“

Schlögel erzählt, wie die Ukraine auf die mentale Landkarte der westeuropäischen Länder und insbesondere Deutschland gekommen ist nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, erst recht in den Jahren zwischen 2014 und 2022, in Folge des Maidans, der Krimeroberung durch Russland und nach dem 24. Februar 2022; und er versucht einmal mehr, eine Sprache für das zu finden, was in Russland passiert, warum es zwar viele Russlandversteher gegeben hat, aber kaum solche, die von Russland wirklich etwas verstehen. Was motiviert Putin, was umtreibt ihn, wen stellt er dar? „Er war und ist der Meister der Eskalationsdominanz, der wohl kalkulierten Verschärfung von Konflikten, den kalkulierten Bruch des Nukleartableaus eingeschlossen.“

Es gab viele Russlandversteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden.

Karl Schlögel

Am Ende wechselt Schlögel noch einmal die Perspektive und singt lange das hohe Lied auf die ukrainischen Bürger und Bürgerinnen, die kein Aufheben davon machen, „in einer postheroisch gewordenen Welt zu Helden“ geworden zu sein: „Sie wissen, dass ein zu allem entschlossener Aggressor sich nicht mit Worten aufhalten lässt.“

Laudatio von Katja Petrowskaja

Was wiederum schön mit der Laudatio von Katja Petrowskaja korrespondiert, die Schlögel abermals fast zu Tränen rührt. Petrowskaja spricht von Schlögels früher „Liebe zu den Menschen von dort, in Prag, Warschau und weiter ostwärts“, von seiner Glaubwürdigkeit und seinen Entsetzen.

Und sie erwähnt, wie unvergesslich ihr eine Talkshow mit Anne Will sei, in der Schlögel sich als Historiker und Slawist dafür entschuldigte, diesen Krieg nicht vorhergesehen zu haben: „Auf eine solche Entschuldigung hatte man vergeblich von den Politikern, Sicherheitsexperten oder sonst wem gewartet, die uns mit ihrem ,Wandel durch Handel´den ewigen Frieden versprochen hatten und die auch nach 2014 weiter mit dem Kriegsverbrecher verhandelten.“

Schlögels Rede dürfte all denjenigen, die meinen, Putin noch immer mit gutgläubigen Verhandlungen einhegen zu können, in den Ohren geklingelt haben; genau wie seine Charakterisierung der Menschen in der Ukraine, „die in vorderster Front stehen“ und viel mehr wüssten „als wir im sicheren Hinterland“. Karl Schlögel schließt seinen Dank in der Paulskirche mit den Worten, dass von der Ukraine lernen auch siegen lernen bedeuten könnte. Was zu verstehen ist als eindringlicher Appell an Deutschland, an Europa, in der Unterstützung der Ukraine bloß nicht nachzulassen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })