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Gedichte aus Guantánamo: Kritzeln mit dem Apfelstiel
Lyrik in lebensfeindlicher Umgebung: eine Anthologie und ihr Kommentar
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Wie viele Gedichte in Guantánamo tatsächlich entstanden, weiß nicht einmal das Pentagon. Wenn in der ursprünglich 2007 von dem Menschenrechtsanwalt Marc Falkoff herausgegebenen Anthologie von den rund hundert überlieferten Texten aber nur 17 Stimmen mit 22 Gedichten versammelt sind, liegt das daran, dass der Löwenanteil vom US-Verteidigungsministerium unter Verschluss gehalten wird. Das Gefangenenlager ist entgegen aller Ankündigungen von Joe Biden noch immer nicht aufgelöst: 34 muslimische Männer werden dort weiterhin festgehalten.
Die deutsche Ausgabe fügt der Auswahl lediglich ein mehr als die Hälfte des Bandes umfassendes Nachwort von Sebastian Köthe aus hinzu: eine Kurzfassung seiner Dissertation „Guantánamo bezeugen – Aisthetiken von Widerstand und Folter“. Die Anrufungen, Gebete und Empörungsschreie stammen von gläubigen Muslimen, die sich in ihrer größten Not oft erstmals zur Poesie berufen fühlten.
Vieles, was sie auszudrücken versuchten, wurde nicht einmal schriftlich fixiert: Sie mussten es nach der Entlassung aus der Erinnerung rekonstruieren. Als Stift diente ihnen mitunter ein Apfelstiel, mit dem sie ihre Styroporbecher gravierten. Köthe deutet die Guantánamo-Gedichte mit einem rein antiamerikanischen Furor, der nie den Bogen zum Konzentrationslager oder zum Gulag schlägt: Orte, an denen bedeutende, über das bloße Zeugnis hinausgehende Texte entstanden. Was verrät es über den Menschen, selbst unter lebensfeindlichen Umständen dichten zu wollen? Erst die Antwort darauf würde eine umfassende Theorie der Kunst enthalten, die sich nicht in politischer Indienstnahme erschöpft.
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