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Kultur: Gerettet? Noch nicht

Tom Stoppards „Coast of Utopia“ im Londoner National Theatre

Von Ulrich Fischer

Die Uraufführung von Tom Stoppards neuer Trilogie „The Coast of Utopia“ am Wochenende in London sollte den Höhepunkt von Trevor Nunns Intendanz am Royal National Theatre, dem Flaggschiff der britischen Bühnen, markieren. Stoppard, gerade 65 geworden und wegen seiner Verdienste um das britische Drama und für Drehbücher wie „Shakespeare in Love“ zum Ritter geschlagen, nennt die Teile seines theatralen Triptychons „Voyage“, „Shipwreck“ und „Salvage“: Reise, Schiffbruch, Rettung. Die Uraufführung begann um 11 Uhr mittags und endete knapp zwölf Stunden später. Eines langen Theatertages Reise in die Nacht.

Tom Stoppard gehört neben Harold Pinter, Edward Bond und David Hare zu den vier Musketieren der britischen Gegenwartsdramatik. Sein Rivale Hare, eher dem Spektrum linken Zeittheaters zuzurechnen, hielt mit einer 1993 vollendeten Trilogie einst dem England Maggie Thatchers den Spiegel vor – und krönte die Intendanz von Richard Eyre am Royal National Theatre (NT). Jetzt zieht Stoppard nach, und mit ihm Trevor Nunn, Eyres Nachfolger. Nunn hat darauf verzichtet, sich für eine zweite Amtszeit zu bewerben – möchte seinen Gegnern aber mit einer weiteren Regie-Arbeit beweisen, dass die Kritik am künstlerischen Niveau seines Wirkens nicht berechtigt sei.

Stoppards Trilogie beginnt 1833 in Russland, im Mittelpunkt steht der (historische) Anarchist Michail Bakunin. „Voyage“ zeigt ihn als verwöhnten Sohn aus gutem Haus, Michail lässt sich auf der Universität von der Philosophie des deutschen Idealismus begeistern; dabei informiert Stoppard, der schon vor 30 Jahren in seinem Welterfolg „Travesties“ Lenin, Joyce und Tristan Tzara absurd-real zusammenführte, das Publikum einmal mehr mit amüsanten Geistesblitzen darüber, was Schelling, Kant und Hegel an Dialogpointen zu bieten haben.

Im Gesamtzusammenhang der Trilogie gewinnt diese Exposition die Funktion eines Negativbildes: Bakunin und seine Mitverschworenen sind als Politiker des Umsturzes nicht ernst zu nehmen, für die Geheimpolizei des Zaren eine leichte Beute; statt dessen rückt Alexander Herzen in den Mittelpunkt, der heute fast vergessene Revolutionär. Herzen erscheint als absoluter Kontrast zu Bakunin, als klarer Denker und scharfer Kritiker all jener revolutionären Gruppierungen, die auf Gewalt setzen.

Diesen Kantianer des Umbruchs spielt in London Stephen Dillane; Dillane, schlank, elegant, von starker Bühnenpräsenz, will einen Mann von Intelligenz und überragender Rednergabe porträtieren, wirkt aber nur wie ein Mime, der seine Rolle brillant und auswendig beherrscht – statt zu zeigen, wie Herzen seine Gedanken erst jeweils aus der Situation entwickelt.

Nicht der einzige Regiefehler Trevor Nunns. Nunn, vormals bei der Royal Shakespeare Company, ist ein Routinier nicht nur im seriösen Fach, er hat auch häufig Musicals inszeniert. Und wie ein Musical sieht die Aufführung auch über weite Strecken aus; die Ausstattung, vor allem die Kostüme, sind ein wenig zu prächtig, zu farbenfroh geraten, die Inszenierung ist wie hochglanzlackiert.

Nunn reiht Episode an Episode und vernachlässigt Tom Stoppards Tiefendimension. Der Dramatiker will seine Geschichtsphilosophie am Beispiel Herzens darlegen: Fortschritt wird einerseits von Zufällen behindert, durch die Dummheit der großen Masse, die die Errungenschaften der Revolutionen nicht zu erkennen, geschweige denn festzuhalten vermag. Und Stoppard attackiert auch die Borniertheit der Revolutionäre: Statt zusammenzustehen, schmieden sie selbst im Elend des Exils noch Ränke gegeneinander.

Stoppard ruft Alexander Herzen (1812–70) wieder ins Bewusstsein, weil er das Konzept einer Revolution ohne Gewalt vertrat. In Trevor Nunns Inszenierung dominiert die Oberfläche, die Episode, das rein Narrative, es fehlt die Dialektik von revolutionärer Notwendigkeit und revolutionärer (Selbst-)-Zerstörung. So kommt die mit riesigem Aufwand betriebene Theater-Reise an der „Küste der Utopie“ nicht ans Ziel. Das liegt hier nicht allein am Wesen der Utopie oder dem großen Drama russischer und europäischer Welt-Geistgeschichte. Denn Geist und Welt in Stoppards Dreifachstück sind für das Theater wohl noch immer zu entdecken.

Aufführungen der gesamten Trilogie am 17., 24. und 31. August sowie 7., 14., September, 12. und 19. Oktober.

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