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Die Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama hat als Beraterin auch am Drehbuch mitgearbeitet.

© Christine Rogge

Girley Charlene Jazama über deutsche Kolonialverbrechen: „Ich kann ein Katalysator sein, um meinen Vorfahren eine Stimme zu geben“

Die namibische Schauspielerin Girley Charlene Jazama spielt im historischen Drama „Der vermessene Mensch“ die weibliche Hauptrolle. Im Interview spricht sie über die Folgen des Genozids in ihrem Land und die Notwendigkeit des Erinnerns.

Frau Jazama, Sie spielen in Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ die Herero-Frau Kunouje, die Ende des 19. Jahrhunderts die Gewalt der deutschen Kolonialmacht erlebt. Im heutigen Namibia sind die Spuren des Kolonialismus noch deutlich sichtbar. Wann haben Sie gelernt, dass die „Schutztruppen“ des Deutschen Reichs zwischen 1904 und 1908 einen Genozid an den Herero und Nama verübten?
In der Schule. In Namibia gehört dieser Teil unserer Geschichte zum Lehrplan, wurde aber nicht im Detail behandelt. Vom tatsächlichen Ausmaß des Genozids habe ich erst als Erwachsene erfahren, als ich selbst angefangen habe zu recherchieren.

Dass ich aber auch eine familiäre Verbindung dazu habe, ist mir erst kurz vor den Dreharbeiten bewusst geworden. Ich komme aus einer Herero-Familie, aber meine Verwandten haben verschiedene äußerliche Merkmale. Eine meiner Tanten hat blaue Augen, blonde Haaren und eine helle Hautfarbe. Als das ZDF vor einem Jahr ein Porträt über mich drehte, habe ich sie zum ersten Mal nach den Hintergründen gefragt.

Eine meiner Tanten hat blaue Augen, blonde Haaren und eine helle Hautfarbe. 

Girley Charlene Jazama

Was haben Sie über Ihre Familiengeschichte gelernt?
Meine Ururgroßmutter war Gefangene im Konzentrationslager „Alte Feste“ (in Windhoek, Anm. d. Red.) und diente als Teedame für einen der deutschen Kommandanten. Ihr Kind, meine Urgroßmutter, kam dort 1909 zur Welt. Es war nicht das Resultat einer Liebe, sondern einer Vergewaltigung – und da wurde mir bewusst, dass ich ein Nebenprodukt dieser Vergewaltigung bin. Diese Erkenntnis musste ich verarbeiten. Auch weil sie in einer Phase kam, in der ich mich fragte, was meine Rolle als Künstlerin ist. Ich habe gemerkt, dass ich ein Katalysator sein kann, um meinen Vorfahren eine Stimme zu geben.

Hatten Sie keine Vorbehalte, mit einem deutschen Filmteam in Namibia einen Spielfilm über den Genozid zu drehen?
Der Grund, warum ich mich eingebracht habe, war mein persönlicher Eindruck von Lars Kraume und dem Produzenten Thomas Kufus: Sie wollten nicht unsere Geschichte erzählen, sondern festhalten, was in ihrer eigenen Geschichte passiert ist. Und sie sagten, dass sie mein Volk mit Würde und Respekt darstellen wollen. Nach unserem Kennenlernen bat mir Kraume eine größere Rolle an und fragte mich, ob ich als Beraterin am Drehbuch mitwirken wolle, weil ich auch als Autorin und Produzentin arbeite. Dieser inklusive Ansatz schien mir eine gute Zusammenarbeit zu versprechen.

Bei einer Berliner Vorführung kritisierte eine Zuschauerin das „White Savior“-Motiv des Films: ein Deutscher, der den afrikanischen Menschen zu Hilfe kommt. Inwiefern waren Sie an der Entwicklung der Geschichte beteiligt?
In der ersten Drehbuchfassung kommt die deutsche Hauptfigur, der Ethnologe Hoffmann, am Ende, um Kunouje zu retten. Da habe ich zu Lars Kraume gesagt: „Niemand hat mein Volk gerettet. Die Geschichte können wir so nicht erzählen.“ Er hat mir zugehört und das Drehbuch mehrfach überarbeitet, per Skype haben wir über die Änderungen diskutiert. Es war ein schöner Austausch.

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Eine der letzten Szenen zeigt das Konzentrationslager auf der Haifischinsel nahe Lüderitz und erinnert an den Raub von menschlichen Schädeln im Namen der Wissenschaft. Wie war es für Sie, diese Szenen zu drehen?
Es war hart. Bevor wir auf der Haifischinsel drehten, lernte ich in der Maske eine Frau kennen, deren Großmutter damals in einem Lager die Haut von den Totenschädeln kratzen musste. Als ich dann aufs Set in die Baracke kam, bekam ich einen Schock wegen all der Details: Da lagen Leichen in Schubkarren herum und Schädelprothesen mit Wimpern und Augenbrauen. Am ganzen Set roch es nach Tod, dieses sinnliche Element hatten sie hinzugefügt. Es hat mich emotional strapaziert.

In Deutschland soll der Film mehr Bewusstsein für die Verbrechen der Kolonialgeschichte schaffen. Wie wird der Völkermord in Namibia erinnert?
Die Nachfahren der Herero und Nama kämpfen dafür, dass darüber gesprochen wird. Wie Sie wissen, gibt es seit Jahren Gespräche um ein Abkommen zwischen Namibia und Deutschland, und einige Nachfahren haben den Eindruck, dass sie keinen Platz am Verhandlungstisch haben. Zur Zeit der Kolonien bildeten die Herero eine Mehrheit der Bevölkerung, im heutigen Namibia gehören beide Gruppen zu den Minderheiten.

Es gibt in Namibia keinen offiziellen Gedenktag an den Genozid.

Girley Charlene Jazama

Die Regierungspartei (SWAPO, Anm. d. Red.) setzt sich mehrheitlich aus anderen Ethnien zusammen, und der Fokus der Erinnerungskultur ist der Befreiungskampf ab den 1960er-Jahren. Es gibt keinen offiziellen Gedenktag an den Genozid. Wir als Herero erinnern aber jedes Jahr im August in Okahandja an den Aufstand gegen die Kolonialherrschaft und den Völkermord an unseren Vorfahren. Und dann gibt es noch eine aktivistische Bewegung, unsere Städte zu dekolonisieren, indem Statuen zu Ehren der Kolonialherren entfernt werden.

Lars Kraume sagt, er habe den Film nur aus Täter-Perspektive machen können. Würden Sie dem zustimmen?
Ich hätte ein Problem damit gehabt, wenn er aus der Perspektive der Opfer hätte erzählen wollen. Das wäre für mich kulturelle Aneignung. Es gibt großartiges Potenzial für Filme aus der anderen Perspektive, etwa über Jakob Morenga oder Samuel Maharero, die den Kampf gegen die Deutschen anführten. Aber das ist unsere Aufgabe als namibische Filmemacher:innen.

Wären Sie interessiert, einen Film darüber zu machen?
Ich würde gerne eine Geschichte entwickeln, die vom Leben meiner Ururgroßmutter inspiriert ist. Wer weiß: Vielleicht sprechen wir in ein paar Jahren noch einmal.

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