
© Jaro Suffner
Literarisch-sinfonische Eisenbahnfahrt: „Gleichheit“ und „Geschwisterlichkeit“ zumindest auf der Bühne
Die türkische Musikruppe Kardes Türküler lädt ein in den „Wagen dritter Klasse“: Sie besingen die Menschheit.
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Verreisen, Zugfahren, das weckt die vielfältigsten Vorstellungen: Reisen in den Urlaub, zur großen Liebe, ins Exil, in den Tod. „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ begegnet dem „Mord im Orientexpress“ oder dem „Nachtzug nach Lissabon“. Wenn Deniz Uzun und Cüneyt Yalas in der Komischen Oper mit ihren alten Koffern den „Wagen dritter Klasse“ besteigen, hinter dem eine in den Osten führende Landschaft vorbeizieht, auf der Route der Transsibirischen Eisenbahn vielleicht, dann denkt man schnell an Migration, Flucht, Vertreibung, Verfolgung.
Der Bühnenentwurf (Duygu Dalyanoglu, Daniel Kaiser) deutet das allerdings diskret an, lässt Raum für Fantasie, hat in wechselnder Beleuchtung (Johannes Scherfling) auch etwas Romantisches. „Wir sitzen alle im selben Zug“ zitieren die Uzun, international tätige Sängerin mit deutsch-türkischen Wurzeln, und der türkische Schauspieler, Autor und Regisseur Yalas aus dem „Eisenbahngleichnis“ von Erich Kästner, versichern sich auf deutsch und türkisch: „Es ist Zeit, aufzubrechen.“
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Auf ihre Reise haben sie Gedichte mitgenommen, aus Nazim Hikmets „Menschlandschaften“ (woraus der Titel der Produktion stammt), von Bert Brecht, Else Lasker-Schüler, vom Kurdischen Newroz (Neujahrsfest), aus armenischen und sephardischen Epen. Sie besingen die Menschheit, die wie das Ameisenvolk herumkrabbelnd die Erde zerstört und doch einmal liebevoll wie eine große Familie war. Sie feiern ihre Lebenskraft, die Möglichkeit, immer noch „vom Zug abzuspringen“.
Tolga Zafer verbindet wie Mikis Theodorakis Populäre und Avanciertes
Das ist allein in der Mischung der verschiedenen Sprachen, Satzmelodien, Laute hochmusikalisch. Mitreißend, überwältigend wird diese „literarisch-sinfonische Zugfantasie“ durch die Kombination der verschiedenen Folkloren, traditionellen Lieder, eigenen Vertonungen durch die Gruppe Kardes Türküler („Lieder der Brüderlichkeit“) und ihren Leiter Tolga Zafer. Der Komponist und Dirigent versucht, darin Mikis Theodorakis vergleichbar, Populäres und Avanciertes, Tradition und Moderne in Kulturen aus aller Welt zu verbinden.
In westlichen Ohren klingt da zumeist Türkisches, Armenisches, Arabisches oder Musik vom Balkan auf. Da sind die übermäßigen Terzen und herabgestimmten Septimen, die diesen Klageton heraufbeschwören, von unterdrückten und zerstörten Völkern wie den galizischen Juden oder den Sinti und Roma künden.
Die Schalmeien winden sich in Girlanden
Da sind die Lieder von Armut und harter Arbeit, über die sich die Musik lachend erhebt: „Tanze, tanze, spiele, spiele die Gajda. Und wenn du nichts hast, iss die Schlafdecken!“ Da winden sich die Schalmeien in Girlanden, verbindet sich die zarte arabische Laute Oud mit elektrischer Gitarre, fasziniert die „Frauenpower“ des Schlagzeugensembles in unfassbarer Vitalität an Rahmentrommel, Fasstrommel, Becken.
Die Selbstverständlichkeit der drei Frauen an den Männerinstrumenten zeigt, dass „Gleichheit“ und „Geschwisterlichkeit“ zumindest auf der Bühne Wirklichkeit werden können. Ein utopisches Bild schon die ganze Truppe: Wie die Friedenstauben sitzen sie zusammen mit den Streicher:innen der Komischen Oper, in weiß glitzernden Festtagskleidern und Sommeranzügen (Kostüme: Uta Jäger).
Da wird mitgeklatscht, getanzt, werden ganze Verse mitgesungen
Mit behutsamen Bewegungen, als „Primus inter Pares“ hält Zafer sein heterogenes Orchester zusammen, verschmilzt die verschiedenen Spielweisen zu einer einheitlichen, farbigen Klanglichkeit. Viele Lieder sind dem türkischen Teil des Publikums bekannt: Da wird mitgeklatscht, getanzt, ganze Verse souverän mitgesungen. Ein Fest, das die stummen Westler miteinbezieht.
Und doch kein Friede-Freude-Eierkuchen, keine Beschönigung: „Mein Sohn ist im Krieg gefallen“, heißt es bei Brecht, den Hass, zu überwinden, der schon in Worten liegt, ist Nelly Sachs’ Aufruf an die „Völker der Erde“. Bewegend, wenn sich aus sanften gehaltenen Streicherklängen plötzlich die Melodie von den „Moorsoldaten“ herausschält, von Uzuns schöner Stimme immer mehr gesteigert, von Yalaz auf türkisch rezitiert. Der Kampf, der Aufruf zum Aufstehen mündet in Versöhnung: „Leben einzeln und frei wie ein Baum, geschwisterlich wie ein Wald“ von Nazim Hikmet ist das Schlusswort, vergessene, uneinlösbare Utopie vergangener Zeiten und doch da real, wo Menschen es wollen.
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