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Unsere Guilty Pleasures (3): He, Chat, was sagst du dazu?
Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Aber schreiben. In der Serie Guilty Pleasures schauen wir in unsere Kitschecken. Teil 3: „Geschwätzblitz“.
Stand:
Zunächst einmal: Ich klage an. Ich klage mich an, für mein ambivalentes Verhältnis zum Thema Geschwätz. Es geht nicht um Unterhaltung im entspannten Umfeld oder Gespräche ohne besonderen Tiefgang. Die Brust darf ruhig mal sorglos schlummern. Aber wenn das dazu führt, im Internet Lebenszeit en masse zu verschwenden, dann wird’s bedenklich. Ich habe das durchgerechnet. Angenommen, ich werde 80 Jahre alt. Dann wären das rund 700 000 Stunden, die es möglichst sinnvoll zu verbringen gilt. Und damit zum heiß geliebten Gegenstand meiner Klage.
Das Schachspiel. Es hat mich – gerade auch mit dem Hype um die Netflixserie „Damengambit“ – zum „Geschwätzblitz“ gebracht. Das ist ein regelmäßig erscheinendes gut 90-minütiges Youtube-Video, in dem Schachgroßmeister Jan Gustafsson gegen Laien (wie mich) antritt. Fünf Minuten pro Person für alle Züge, online gespielt. Da kann man was lernen und hätte im Grunde sinnvoll Zeit verbracht. Wenn das nicht auch was von Zuschauerbeleidigung à la Thomas Bernhard hätte.
Gustafsson rät zum Wegschalten
Meister Gustafsson kündigt öfter zu Beginn an, schlecht gelaunt zu sein. Es folgern Blitzpartien mit Gegnern, denen eine leichte, offenbare Geringschätzung nichts ausmacht. Mit manchen legt sich Gustafsson an, rät zum Wegschalten. Andere scheinen ebenso süchtig, sind Stammmitschwätzer oder Stammleser – wie ich. Schachspielen? Nebensache.
Gesucht wird der irrwitzige Schlagabtausch mit der Chatgemeinde, die von Gustafsson in einer interessanten Art des Singular Majestatis angesprochen wird („He, Chat, was gibt’s Neues?“). Fragen und Antworten zu Themen wie Kochrezepte, Haargels, NBA, Wetter, Baden-Baden, vor allem zu Serien und Filmen aus dem Trashbereich und Reality-TV („kann man Bachelor schon gucken oder erst um 20 Uhr 15?“).
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Nichts gegen Trash, aber mir sind NBA, Style-Tipps und „Bachelor“ egal. Trotzdem hänge ich an der Geschwätzblitz-Nadel, was sich mit meinem Faible für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung nicht hinreichend erklären lässt. Ja, in besseren, charmanten Phasen hat dieser Gustafsson was von Harald Schmidt. Kokettieren mit eigener Anspruchslosigkeit und niederen Unterhaltungsbedürfnissen.
Ich will mich aber nicht immer unterhalten. Ich will lernen. Ich will diese Welt nach 80 Jahren zumindest schachlich geläutert verlassen. Und was tue ich? Schwätzen. Meiner Frau sage ich bei meinem guilty pleasure meistens, ich spiele Schach am PC. Bis sie die Stimme eines 41-Jährigen im Hamburger Schnack hört und mit Fragezeichen auf der Stirn um die Ecke kommt.
Wie stelle ich Gustafsson ab? Soll ich grundsätzlich offline gehen? Mal schnell bei Norbert Bolz geschaut, dem Philosophen: zu den wahren Bedürfnissen des Menschen im Umgang mit der vernetzten Welt. Wozu taugt denn das endlose Gerede im Fernsehen und im Internet?
Das Internet ist, genauso wie die Telefonie, im Wesentlichen Geschwätz. Gerade Intellektuelle übersehen leicht diesen wichtigsten Faktor der neuen Medienwelt, die Kommunikationslust. Wir sind geschwätzige Affen.
Kommunikationstheoretisch so eingebettet läuft das mit dem Geschwätzblitz und meinem Gewissen seit einiger Zeit etwas besser. Ich zähle nicht mehr die Stunden. He, Chat, was sagst du dazu?
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