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Sinnsuche in Stein. Kriegerdenkmal auf dem Berliner Garnisonsfriedhof für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs.

© dpa

Gedenken an den Ersten Weltkrieg: Helden und Opfer

In Deutschland wurde nach dem Ersten Weltkrieg hart darum gerungen, auf welche Weise man der toten Soldaten würdevoll gedenken sollte. Die überall im Land entstandenen Denkmale erzählen bis heute davon.

Im Ersten Weltkrieg starben neun Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten, darunter zwei Millionen Deutsche. Der Massentod war präzedenzlos, für ihn musste sich die Sprache des öffentlichen Gedenkens erst herausbilden. Hinzu kam, dass die Gefallenen überwiegend an der Front beerdigt wurden.

Den an der Ostfront Umgekommenen blieb infolge der Russischen Revolution eine dauerhafte Ehrung versagt. An der Westfront hingegen entstanden große Soldatenfriedhöfe, die jeden Gefallenen ohne Unterschied von Offizier und Mannschaft beim Namen nannten – auf einheitlich gestalteten Reihengräbern, deren endlose Folge die Massenhaftigkeit des Kriegstods veranschaulichen sollte. Den Angehörigen blieb es allerdings weitgehend unmöglich, zu den Gräbern ihrer Väter und Söhne nach Frankreich und Belgien zu reisen. Trauer und Gedenken konzentrierten sich daher auf die lokalen Denkmäler, wie sie praktisch überall nach dem Krieg errichtet wurden, in Dörfern und Städten, Schulen und Universitäten.

Diese Denkmäler gehen auf das im 19. Jahrhundert entwickelte Kriegerdenkmal zurück, das die überkommenen Schlachten- und Feldherrnmonumente ersetzte. Darin wurde nicht mehr das individuelle Sterben im Bild des schlafenden Kriegers gewürdigt, sondern der Opfertod für das Vaterland. Der monumentale Gefallenenkult des 19. Jahrhundert – das Leipziger Völkerschlachtdenkmal oder die Siegessäulen auf zentralen Plätzen deutscher Städte – stand für eine Vergangenheit und Zukunft zusammenführende Sinnstiftung. Er verband die Totentrauer mit dem Siegeskranz und pries den Beitrag der Helden zur Wiedergeburt des Vaterlandes.

Nach 1918 jedoch galt es keinen Sieg zu feiern, sondern nur dem Massentod einen Sinn zu verleihen. Das führte zu einer deutlichen Veränderung der Totenklage, zumal angesichts einer mental zersplitterten Kriegserinnerung in der politisch zerrissenen Nachkriegsgesellschaft. Anders als in Frankreich und in England konnte man sich hierzulande nicht auf eine gemeinsame Sprache der Erinnerung einigen. In Paris, London und Washington fand die Trauer im Symbol des Unbekannten Soldaten einen allgemein akzeptierten Ausdruck; in Deutschland wurde erbittert darum gestritten, ob die Trauer um die Opfer oder die Ehrung der Helden im Vordergrund zu stehen habe.

So endete eine Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag des Kriegsausbruchs 1924 in einer wüsten Schlacht der Kontrahenten. Der von Reichspräsident und Reichskanzler ausgegangene Aufruf für ein gemeinsames Ehrenmal der Kriegstoten erbrachte zwar zahlreiche Vorschläge, etwa eine Toteninsel bei Lorch im Rhein oder einen Heiligen Hain bei Bad Berka in Thüringen. Aber nichts davon wurde realisiert.

Sollten die Soldaten als Opfer geehrt werden - oder als Helden?

Im Deutschen führt die Rede vom Opfer zwei Bedeutungen zusammen, die in anderen Sprachen als Sacrificium und Victima getrennt werden. Es verwischt den für den Totenkult zentralen Unterschied zwischen dem passiv erlittenen Leid und dem aktiv dargebrachten Opfer. Die Linke lehnte eine Denkmalsprache ab, die den Krieg verherrlicht, und entwickelte eine avantgardistische Formensprache. Etwa bei der auf einem Friedhof angesiedelten Gedenkstätte der Sozialisten in BerlinFriedrichsfelde, für die Mies van der Rohe 1926 ein kubistisches Revolutionsdenkmal schuf. Insgesamt jedoch konnte sich die viktimistische, mehr den Schmerz als den Stolz betonende Totenehrung in der auf die Revision der Kriegsniederlage orientierten Weimarer Republik nicht durchsetzen. 1932 wurde einem deutschen Professor sogar die Lehrerlaubnis entzogen, weil er öffentlich geäußert hatte, für ein Kriegsdenkmal sei „eine leicht bekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand“ weniger angemessen als „eine einzige große Kohlrübe“ zum Gedenken an den mörderischen Hunger im Krieg. Und nach 1933 verschwanden mit Mies’ Revolutionsdenkmal auch die vereinzelten pazifistischen Denkmale mit dem Motiv des Knochenmanns oder der Pietà, etwa von Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach.

In der nationalistischen Denkmalskultur hingegen stieg der Soldat auf den Sockel. Anders als in Frankreich oder England wird der Soldat nicht als heimkehrender Bürger dargestellt, der seine militärische Pflicht erfüllt hat, sondern als Krieger, der das heroische Soldatentum verkörpert. Der Denkmalskult diente der inneren Mobilmachung, er zielte auf eine Sinngebung, in der die gebrachten Opfer als Auftrag an die Nachfahren verstanden wurden, die Schmach von Versailles auszulöschen. Eine beliebte Inschrift lautete: „Unseren Gefallenen – Sie werden auferstehen“, eine andere: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“

Im „Dritten Reich“ wurde die Monumentalisierung des Totengedenkens entschlossen weiterbetrieben; 1935 weihte man das Denkmal für die Schlacht bei Tannenberg als Reichsehrenmal ein. Und während der Erste Weltkrieg nach 1945 in England und Frankreich weiter als „Der Große Krieg“ im Gedächtnis blieb, wurde das Gedenken in Deutschland von der übermächtigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg überlagert. Infolge der nochmals höheren Opferzahlen, des völligen staatlichen und moralischen Zusammenbruchs und des Holocaust interpretierte man „1914“ als Vorgeschichte von „1933“ – wie auch die Debatte um die deutsche Kriegsschuld zeigt.

Erst zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs ist der Erste Weltkrieg auch ins deutsche Geschichtsbewusstsein zurückgekehrt. Vor allem hat sich der Weltkrieg in eine gemeinsame europäische Geschichtserzählung einzufügen begonnen, im Zeichen der Bedrohung des Projekts „Europa“ von innen und außen. Bedrohung schafft Identität. Dazu kann jetzt auch der Erste Weltkrieg beitragen, denn mit dem Tod der letzten Zeitzeugen sind die Stimmen verstummt, die mit ihm vor allem das Trennende assoziierten.

Heute können Sieger und Verlierer des traurigen Jubiläums gemeinsam in Paris, in Ypern oder am Hartmannsweiler Kopf gedenken, weil die trennende Idee der Heldenehre von der verbindenden Idee der Opfererinnerung abgelöst wurde. Den Ersten Weltkrieg lesen wir – allerdings weit mehr in Deutschland als in England oder in Serbien – nicht mehr als Kampf um eine gerechte Sache, sondern als blinden Taumel in die vermeidbare Katastrophe. Aus der Geschichte lernen heißt nun, gemeinsam die Möglichkeit einer Wiederholung des Kriegsausbruchs auszuschließen.

Damit erhält die Idee Europa ein historisches Legitimationsfundament. Aus den Katastrophen von 1914 und 1939 ist eine übernationale Gemeinschaft erwachsen, die mit dem Mauerfall 1989 und der EUOsterweiterung 2004 von einem west- zu einem gesamteuropäischen Projekt geworden ist. Vor 100, vor 25, vor 10 Jahren: Dass der Zufall alle drei Jahrestage zusammenbringt, verleiht dieser Geschichtserzählung noch mehr mediale Zugkraft.

Sie ist ein enormer Gewinn, denn sie lässt uns das 20. Jahrhundert neu denken, ohne die historische Schuld der Deutschen am Jahrhundert der Extreme zu relativieren. So intensiv wir jetzt über die Schlafwandler in die Urkatastrophe von 1914 nachdenken, haben wir im letzten Jahr der zerstörten Vielfalt von 1933 gedacht und werden uns im nächsten Jahr auf die Schreckensbilanz des Zweiten Weltkriegs und die Überwindung Hitlerdeutschlands 1945 konzentrieren.

„1914“ als katastrophische Geburtsstunde Europas zu lesen, ist in Deutschland jedoch noch jungen Datums. Diese andere Erinnerung bleibt so suggestiv wie anfechtbar: Es gab nicht nur den sinnlosen Opfertod, man kann auch in den Krieg gezogen (worden) sein, um die bedrohten Werte der menschlichen Zivilisation zu verteidigen. Und der Krieg brachte nicht nur Unheil: Erst die Niederlage von 1918 machte Deutschland zur Republik und die Welt empfänglich für die Idee des Völkerbundes. Aufgabe der Geschichtsschreibung bleibt jedoch stets mehr die kritische Begleitung als die zustimmende Bestätigung historischer Meistererzählungen. Auch wenn die Idee einer übernationalen, auf Freiheit und Recht gegründeten Wertegemeinschaft uns sympathischer ist als der nationale Taumel, der die Menschheit vor 100 Jahren ins Inferno ziehen ließ.

Martin Sabrow leitet mit Frank Bösch das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Martin Sabrow

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