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Günter Kunert: "Ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank!"

Ein Gespräch mit dem großen Lyriker Günter Kunert, der heute in Kaisborstel bei Itzehoe seinen 80. Geburtstag feiert „Berlin heute? Alles bloß Aquarien, in denen Menschen herumschwimmen“

Herr Kunert, Ihr erster Gedichtband „Wegschilder und Mauerinschriften“ erschien vor über 50 Jahren in Berlin. Wann haben Sie mit dem Schreiben angefangen?



Das war noch während des Kriegs. Ich muss 13 oder 14 gewesen sein. Mein Vater hatte mir eine uralte Schreibmaschine geschenkt, darauf tippte ich so allerlei. Zum Beispiel hatte ich im Kino „Münchhausen“ mit Hans Albers gesehen. Ich war so begeistert, dass ich zu Hause die ganze Geschichte noch einmal aufschrieb. Das habe ich sogar eingebunden. Das Büchlein überstand auch den Bombenangriff, der unser Haus zerstörte.

Das erste Gedicht kam später.

Eines Tages, nach dem Krieg, lieh ich mir eine Schreibmaschine, um einen Brief zu schreiben. Da fiel mein Blick auf die große Kastanie im Hof, und ich stellte mir vor, dass die Äste bedrohlich wachsen und in die Zimmer ringsum eindringen. Plötzlich fing ich an, Zeile für Zeile untereinander zu schreiben, wie in Trance. Die Worte verführten mich! Von da an schrieb ich fast täglich.

Und eines Tages hatten Sie genügend Gedichte für ein Buch und wandten sich an Johannes R. Becher, der damals aber noch nicht Kulturminister der DDR war.

Nein, Becher war die zweite Wahl. Vorher wollte ein Ungar, den ich im British Center kennengelernt hatte, Ladislaus Szomogy, einen Band mit meinen Gedichten machen. Er hatte einen kleinen Verlag in Schmargendorf. Aber dann wurde die Währungsreform verkündet, und Szomogy gestand mir in der Paris Bar, dass er pleite ist.

Da hatte Becher aber Glück. 1950 schwärmte er in seinem Tagebuch: „Aus unserer neuen Wirklichkeit ist ein Dichter erstanden, seine Gedichte segnen unser Tun und Trachten, der Dichter in mir neigt sich, vor einem neuen Wehen.“ Sind Sie jemals wieder so besungen worden?

Zum Glück nicht! Wenn man so besungen wird, wird man sich ja selber verdächtig. Lieber eine kritische Rezension, die Hand und Fuß hat, als eine derartige Schmeichelei. Die nützt einem Dichter wenig. Dass er gut ist, weiß er selber.

Wie war das genau mit Becher?

Ein Freund sagte: „Du musst mal zu Becher gehen!“ Und so ging ich in die Jägerstraße in den sogenannten Club der Kulturschaffenden. Unten drin war eine Buchhandlung, und im ersten Stock gab es ein Restaurant für die gehobeneren Klassengenossen. Ich fragte die Buchhändlerin: „Ist Herr Becher hier?“ „Jaja“, sagte sie. „Der ist gerade zu Tisch.“ Ich wartete in der Garderobe. Es kam ein großer massiver Mann mit einem Bulldoggengesicht und sah mich unfreundlich an. Ich stammelte: „Herr Becher ... wenn ich ... Ihnen das mal ... geben dürfte?“ Unwirsch nahm er meine Gedichte, setzte sich die Mütze auf und verschwand.

Klingt nicht gerade verheißungsvoll.

Nein, wirklich nicht. Ich war auch deprimiert, zumal ich von den Gedichten nicht mal Durchschläge hatte. Aber am nächsten Tag bekam ich ein Telegramm: „Wunderbar! Kommen Sie sofort zu mir! Aus Ihren Gedichten machen wir ein Buch.“

Sie sind natürlich hingegangen.

Ja, wir unterhielten uns nach dem Motto „Missverstehen wir uns richtig?“ Ich kannte wenig von dem, was er kannte, er wenig von dem, was ich wusste. Ich ging dann ein paarmal zu ihm. Einmal hat er mich examiniert: „Kennen Sie Gryphius?“ Ich schüttelte den Kopf. Traurig blickte er mich an. „So weit haben es die Nazis gebracht! Nicht mal Gryphius kennt unsere Jugend noch.“

Noch im selben Jahr, 1950, erschien Ihr erster Gedichtband bei Aufbau. Da hielt sich Ihr Groll gegenüber Becher in Grenzen.

Er hat mir geholfen, und ich bin ihm dankbar dafür . Allerdings habe ich viel später mit Becher Schiffbruch erlitten. Er hat ja einen Roman geschrieben, „Abschied“, die Geschichte von jungen Menschen vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Becher war schon tot, da hatte seine Witwe die fatale Idee, den Roman zu verfilmen. Das Drehbuch, hieß es, könne nur einer schreiben, nämlich dieser junge Dichter, der ich damals schon gar nicht mehr war. Der Film von Egon Günther sollte zu Bechers zehntem Todestag laufen, 1968.

Sollte?

Der Film hatte an Bechers Todestag Premiere im Filmtheater Kosmos. Es war eine ungeheure Feier: Die Nationale Volksarmee tanzte und sang, es wurden Gedichte rezitiert. In der ersten Reihe saß Herr Ulbricht samt Lotte. Und wir, die Schöpfer des Films, saßen in der letzten Reihe. Als der Film begann, stand Ulbricht mit seinem Hofstaat auf und verließ das Kino. Er hatte sich den Film schon vorher nach Wandlitz kommen lassen und den Daumen gesenkt. Ein defätistisches Machwerk! Das war das Todesurteil, Gott sei Dank nicht mein persönliches, aber der Film war erledigt. Er lief noch ein paar Tage in einem Berliner Vorort, dann kam er in den Giftschrank.

Sie hatten auch ein persönliches Verhältnis zu Brecht.

Das war auch so ein gesteuerter Zufall. Wieder schickte mich dieser Freund los. Brecht war gerade aus der Schweiz zurückgekehrt, er wohnte in einem Gebäuderest des Hotels Adlon. In dem Moment, als ich an dem Zimmer klopfen wollte, öffnete sich die Tür, und Theo Lingen kam heraus. Aber da stand auch schon Brecht vor mir und bat mich herein. Da saß Helene Weigel, und auf dem Tisch lagen Dutzende amerikanische Fleischbüchsen, was in jenen Hungerjahren etwas sehr Seltenes war. Ich überreichte ihm meine Gedichte, Brecht nahm sie fast mit einer Verbeugung entgegen, so als hätte er sich in all den Jahren in der Emigration nichts sehnlicher gewünscht, als dieses Manuskript in die Hände zu bekommen. Von da an habe ich Brecht immer mal wieder besucht.

Welchen Eindruck haben Sie, wenn Sie Ihre frühen Gedichte heute wiederlesen?

Das alles erscheint mir doch sehr naiv. Ich war ja auch naiv, das heißt, ich war nicht nur, ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank! Sonst könnte ich gar keine Gedichte mehr schreiben.

Lesen Sie eines dieser Gedichte bitte vor?

Eines verfolgt mich bis heute. Es ist mindestens 200 Mal erschienen. Ich bekomme immer von der VG Wort die Nachricht: „Ihr Gedicht ist in diesem Schulbuch gedruckt worden.“ Es ist immer dieses eine, es ist furchtbar, ich kann es nicht mehr sehen! Es heißt „Über einige Davongekommene“ und lautet: „Als der Mensch / unter den Trümmern / seines / bombardierten Hauses / hervorgezogen wurde, / schüttelte er sich / und sagte: / Nie wieder. // Jedenfalls nicht gleich.“

Was hatten Sie zu dieser Zeit für Pläne?

Ich hatte überhaupt keine Pläne. Ich war ja ein ungelernter Mensch, ich hatte keinen Beruf, nichts. Nach 1945 trieb ich fleißig Schwarzhandel, bis meine Mutter eines Tages in der Zeitung las, dass in Berlin-Weißensee eine Kunsthochschule eröffnet worden war. Da ich schon als Kind gezeichnet hatte, meinte sie: „Bewirb dich doch mal!“ Ich wurde angenommen und kam in die Grafikklasse, wechselte dann aber in die Modeklasse, weil es da eine sehr attraktive Lehrerin gab. In dieser Modeklasse waren 36 Mädchen und zwei Knaben. Einer davon war ich. Aber nach ein paar Semestern fing ich ernsthaft zu schreiben an und ging nicht mehr hin. Ich lag dann meinen Eltern auf der Tasche, bis ich bei Zeitungen und Zeitschriften ein bisschen Geld verdiente.

Als Sie 1979 die DDR verlassen mussten, zogen Sie nach Schleswig-Holstein. Warum ausgerechnet nach Kaisborstel bei Itzehoe?

Kaisborstel ist, abgesehen davon, dass es der Nabel der Welt ist, als Wohnort ein Zufall gewesen. Uns war klar, dass wir als Berliner schwerlich nach Bayern ziehen können. In München ist ja mein Verlag. Aber wir hatten einen Freund in Hamburg, der hat herumtelefoniert. Und in Itzehoe ... – nicht Itzehö, ganz wichtig, niemals Itzehö sagen! Dann dürfen Sie sich nie nach Schleswig-Holstein trauen.

Wer sagt denn Itzehö?

In Schillers „Wallenstein“ reimt sich Monsieur auf Itzehö! Das hat man Schiller in Itzehoe nie verziehen. Itzehö!

Und dorthin sind Sie gezogen?

Da stand ein Pfarrhaus leer, da konnten wir zunächst einziehen. Dann sind wir auf die Suche gegangen. Wir haben eine alte Schule entdeckt, die im Zentrum dreier Dörfer liegt, außerhalb von Kaisborstel. Ich sehe nur ein paar verstreute Gehöfte. 76 Einwohner, also nicht überbevölkert.

Fehlt Ihnen Berlin manchmal?

Ich bin ja öfter in Berlin. Aber die Stadt hat sich verändert. Es ist nicht mehr das Berlin meiner Kindheit und Jugend, weder das unbeschädigte noch das zerstörte und heruntergekommene Berlin. Es ist ein Berlin, das in der Hauptsache aus Glaskästen besteht, in denen statt Goldfischen Menschen herumschwimmen.

In welchen Ecken ist Ihnen das denn aufgefallen?

Ach, es gibt da so merkwürdige Gegenden wie den Potsdamer Platz. Der erinnert mich immer an das Kabinett des Dr. Caligari. Das hat etwas Kulissenhaftes und Unheimliches. Zum Glück haben sich noch Ecken erhalten, die ich von früher her kenne. Aber ich muss gestehen, wenn ich zurückfahre und dieser Seewind kommt durchs Autofenster, spüre ich: Ich komme nach Hause.

Möchten Sie eigentlich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben werden, gegenüber von Ihrem Geburtshaus in der Chausseestraße 129?

Um Gottes willen! Auf diesem Friedhof liegen ja nicht nur ehrenwerte Tote wie Becher oder Brecht. Da würde ich lauter Leute treffen, die ich nicht leiden kann!

Das Gespräch führte Renatus Deckert.

Günter Kunert, am 6.3. 1929 in Berlin geboren, absolvierte zunächst eine Lehre in einem Bekleidungsgeschäft. Ab 1946 studierte er Grafik in Weißensee; 1948 erste Publikation von Gedichten und Geschichten, 1949 Eintritt in die SED.

1976 unterzeichnete Kunert die Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann und erhielt nach Streichung der SED-Mitgliedschaft im Oktober 1979 ein Visum für die Bundesrepublik. Kurz darauf reiste er mit seiner Frau aus. Seitdem lebt er in Kaisborstel/ Itzehoe.

Kunert wurde vielfach ausgezeichnet, 2005 wurde er Ehrendoktor der Universität Turin und des Juniata College Huntingdon, USA. Im Frühjahr erscheint sein jüngster Gedichtband „Als das Leben umsonst war“ im Hanser-Verlag.

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