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Holly-Jane Rahlens.

© Heike Brandt

Kinderbuch: Ich ist noch eine andere

Holly-Jane Rahlens’ erzählt von der Macht der Literatur und der Suche nach der Identität in „Das Rätsel von Ainsley Castle“.

Lizzys Welt ist aus den Fugen geraten. Seitdem sie und ihr Vater aus der Stadt auf eine Insel im Norden gezogen sind, ist nichts mehr, wie es mal war. Die neue Lebensgefährtin des Vaters betreibt auf der Insel das Schlosshotel Ainsley Castle, und das Mädchen steigert sich in eine albtraumhafte Abneigung hinein. „Lange, knochige Finger, zehn rasiermesserscharf manikürte Nägel, ochsenblutrot lackierte Stahlklingen greifen nach meiner Kehle. Es ist Stiefmutter“. Wenn sie aus diesen Albträumen erwacht, ist Lizzy immer schwindelig. Was klischeehaft beginnt, entwickelt sich zu einem psychologisch raffinierten Thriller. Als das Halstuch ihrer Mutter, ihr einziges Erinnerungsstück, plötzlich in ihrer Schublade liegt, obwohl die unausgepackte Kiste, in der es aufbewahrt wurde, noch zugeklebt ist, wird Lizzy ganz anders.

Schnell wird klar, dass in Holly-Jane Rahlens’ Roman „Das Rätsel von Ainsley Castle“ nicht alles mit rechten Dingen zugeht. „Ein äußerst merkwürdiges Gefühl überkommt mich. Als hätte ich mich … verirrt. Als wäre ich auf der falschen Bühne gelandet und wüsste weder, welche Rolle ich zu spielen habe, noch wie mein Text lautet“, überlegt Lizzy.

[Holly-Jane Rahlens: Das Rätsel von Ainsley Castle. Aus dem Englischen von Bettina Münch. Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2020. 320 Seiten. 15 €. Ab elf Jahren.]

Rahlens erzählt aus der Sicht der fast 14-Jährigen, die nach dem frühen Tod der Mutter in der neuen Umgebung ihren Platz finden muss. Ihr Misstrauen gegenüber der dominanten Stiefmutter ist groß – Trost spendet ihr die wachsende Freundschaft zu dem Computergenie Mack aus der Nachbarschaft.

"Welchen Sinn hatte ihr Leben?"

Und dann bekommt Lizzy Mailnachrichten, die genau erzählen, was sie gerade erlebt hat. „Elizabeth war schrecklich durcheinander, unzählige Fragen quälten sie. Wer war sie? Sie schien sich von Tag zu Tag mehr zu verändern. Wohin führte ihr Weg? Welchen Sinn hatte ihr Leben? Würde sie jemals Liebe finden“, schreibt der unbekannte Administrator und trifft damit haargenau Lizzys Gemütszustand. Doch woher kann ein anderer das wissen? Psychologisch genau zeichnet Rahlens die zunehmende Verunsicherung von Lizzy nach. Sie bittet Mack um Hilfe, doch die merkwürdigen Mails kommen immer wieder.

Als sie eines Tages ihr Zimmer betritt, sitzen zwei Menschen auf ihrem Bett. Knutschend. Mack und ein Mädchen. „Sie sieht aus wie ich. Und ich sehe aus wie sie. Sie ist ich, und ich bin sie“, stellt Lizzy entsetzt fest. Aber bald merken die Jugendlichen, dass die Mädchen sich doch unterscheiden. Der anderen fehlt nicht nur der Leberfleck, sondern sie mag auch die Stiefmutter.

Ein ungewöhnliches Buch über Literatur und Identität
Ein ungewöhnliches Buch über Literatur und Identität

© Rowohlt Rotfuchs

Holly-Jane Rahlens steigert die Spannung von Kapitel zu Kapitel. Man sucht nach einer rationalen Erklärung, doch so einfach ist das nicht. Mack erweist sich mit seinen Computerkünsten als kühler Kopf, der zwischen den Mädchen steht. Die Lösung des Rätsels ist zweifellos auf der Burg Ainsley Castle zu finden. Rahlens beschreibt ein Mädchen auf der Suche nach sich selbst, das auch das Verhältnis zu seinem oft abwesenden Vater und dessen künftiger Frau klären muss. Ist alles so, wie es scheint? Oder gibt es nicht doch noch eine andere Erklärung?

Lizzy reflektiert ihre Handlungen und beobachtet ihre Umgebung genau. Aber es entsteht der Eindruck, dass sie sich in die Ablehnung ihrer Stiefmutter verrennt. Patchwork-Kinder werden Lizzy sofort verstehen. Rahlens ist ein spannender, temporeicher Roman gelungen, der am Ende mit einer dicken Überraschung aufwartet. Es gibt eben Dinge, die kann nur die Literatur.

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