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Geschichtslehrer, weltvergessen. Martin (Mads Mikkelsen) feiert feucht mit der Abi-Klasse.

© Henrik Ohsten

Im Kino: "Der Rausch" von Thomas Vinterberg: In dubio Promille

Wenn Männer trinken: Thomas Vinterbergs vielfach preisgekröntes Buddy-Movie „Der Rausch“ läuft jetzt in den deutschen Kinos.

Der dänische Regisseur Thomas Vinterberg löckt gerne wider den Stachel. 1995 regte er die Dogma-Bewegung an, die den Autorenfilm mit Authentizitätsgeboten aufmischte. Mit seinem Dogma-Film „Das Fest“ setzte er auch noch das Thema sexueller Missbrauch auf die Agenda, noch bevor die große internationale Missbrauchs-Debatte begann.

Mit „Die Jagd“ (2021) drehte er die Perspektive dann radikal um, indem er die Hexenjagd auf einen zu Unrecht der Päderastie beschuldigten Erzieher anprangerte. Auch die eigene Herkunft aus der Kopenhagener Wohngemeinschafts-Szene unterzog er einem kritischen Blick, 2016 in „Die Kommune“. Thomas Vinterberg ist ein ungemütlicher Filmemacher.

In „Der Rausch“ hat er sich nun den Alkohol vorgenommen, der in Dänemark eine größere Rolle spielt als anderswo, vor allem in der Jugend. Laut WHO bringen es dort schon die 15-Jährigen europaweit auf den höchsten Konsum. Alkoholismus ist ein Problem in dem kleinen, freundlichen Land.

Wieder hält Vinterberg dagegen: Was wäre, wenn wir die Moral erstmal beiseitelassen und schauen, wie gut Alkohol tut? Und wieder spielt der dänische Star Mads Mikkelsen die Hauptrolle, wie in „Die Jagd“. Schmale Augen, unergründliche Miene, zwingende Präsenz, ein Meister der Verhaltenheit. Das internationale Publikum kennt ihn auch als Bond-Bösewicht in „Casino Royale“.

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Die Trinker-Wette in Vinterbergs gefeiertem, unter anderem mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Buddy-Movie geht so: Der Geschichtslehrer Martin (Mikkelsen) beschließt mit drei befreundeten Kollegen, im Selbstexperiment die These des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud zu überprüfen, derzufolge der Mensch 0,5 Promille zu wenig Alkohol im Blut hat. Wobei es Skårderud zwar tatsächlich gibt, aber die Promillezahl wurde ihm von anderen angedichtet. Egal, die Männer starten einen Testlauf gegen ihren Midlife-Frust, trinken sich vor dem Unterricht den 0,5-Pegel an, halten ihn über den Tag bis zum Alkoholverbot ab 20 Uhr – und siehe da, ihr Phlegma verschwindet.

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Der Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen) schafft es, dass selbst der bebrillte kleine Außenseiter ein Tor schießt, der Musiklehrer (Lars Ranthe) entlockt dem Schulchor berückende Gesänge, der Psychologe (Magnus Millang) vertreibt die Prüfungsangst eines Abiturienten, indem er ihm Wodka einflößt. Martin wiederum verblüfft die Klasse mit Vergleichen zwischen alkoholisierten Weltkriegsgewinnlern (Winston Churchill) und mörderischen Abstinenzlern (Adolf Hitler) und animiert sie so zu Topleistungen. Das Quartett rockt die Schule, es macht Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Die Langweiler mutieren zu fantasievollen, extrovertierten Pädagogen – und der Ensemblefilm wird zum Fest für seine Schauspieler.

In Phase 3 des Trinker-Experiments verlieren alle den Halt

Phase 2: Die vier steigern den Pegel und fallen langsam auf. Phase 3: Sie wagen den Exzess. Jetzt pinkelt nicht das Kind ins Bett, sondern der delirierende Dad. Alle verlieren den Halt, torkeln in Familienkrisen und Depression. Das Experiment kostet Leben.

Trinker-Filme sind längst ein eigenes Genre, von Billy Wilders „Lost Weekend“ über „Barfly“ mit Mickey Rourke bis zu „Leaving Las Vegas“ mit Nicolas Cage in seiner vielleicht besten Rolle. Meist sind es Kriegsfilme, Männer im Kampf gegen einen tödlichen Gegner. Bei Vinterberg kämpfen die Helden nicht. Sie werfen sich dem Rausch in die Arme, geben sich dem Kontrollverlust hin.

Vinterberg verteidigt die Zwanglosigkeit, ohne die Folgen der Sucht zu verharmlosen

Der 52-jährige Regisseur will den „Rausch“ als Plädoyer für das Unkontrollierbare verstanden wissen, in seinen Augen leidet die moderne Gesellschaft unter zu vielen Zwängen. Auch der Film nimmt sich Freiheiten, zeigt in Zwischentiteln die aktuellen Promillestände oder eine Collage angeheiterter Politgrößen (Breschnew, Clinton, Merkel mit Bierhumpen), zitiert im Soundtrack den Trinker Tschaikowsky. Und die elegant surfende Kamera von Sturla Brandth Grøvlen sieht wohlwollend zu, wenn die Freunde hochprozentige Cocktails mixen, im Wohnzimmer tanzen, Blödsinn veranstalten.

Aber es gibt eine tragische Kehrseite. Vinterberg selbst erlebte den ultimativen Kollaps von Sinn und Kontrolle, als seine 19-jährige Tochter Ida kurz nach Drehbeginn bei einem Autounfall starb. Eigentlich sollte sie Mads Mikkelsens Tochter spielen. Der Film ist ihr gewidmet, das Kierkegaard-Motto von „Der Rausch“ steht auf ihrem Grab: „Was ist die Jugend? Ein Traum. Was ist die Liebe? Der Inhalt des Traums.“ Vinterbergs Frau ist Pastorin, sie hat über Sören Kierkegaard promoviert.

 Thomas Bo Larsen spielt in "Der Rausch" den Sportlehrer Tommy, der ebenfalls am Trinker-Experiment teilnimmt.
Thomas Bo Larsen spielt in "Der Rausch" den Sportlehrer Tommy, der ebenfalls am Trinker-Experiment teilnimmt.

© dpa/Henrik Ohsten

Abgesehen davon, dass besoffene Studienräte, deren Flaschenvorräte in der Schule auffliegen, ihren Job im wirklichen Leben ziemlich schnell los sein dürften (okay, Kino muss nicht realistisch sein), leidet die Versuchsanordnung zunehmend an eben der Moral, die sie zu überwinden trachtet. Vinterberg will nicht verharmlosen, was den Preis für die Zwanglosigkeit betrifft.

Mads Mikkelsen tanzt am Ende ein grandioses Solo

Dennoch gilt seine Sympathie den letztlich egoistischen Kumpels, die sich der vermeintlichen Fesseln ihrer Verantwortung entledigen, während ihre Ehefrauen, diese freudlosen Wesen, ihnen die Kinder vom Hals und den Rücken freihalten. Sie verlassen ihre Männer, um sich dann doch zu versöhnen. Martin braucht dafür nur einmal mit Hundeblick seine Liebe zu gestehen. Hallo?

Am Ende legt Mads Mikkelsen, der vor seiner Filmkarriere als ausgebildeter Musicaltänzer arbeitete, eine wunderbare Solo-Choreografie hin, während die Abi-Klasse intonationssicher patriotische dänische Lieder anstimmt. Eine ausgelassene Party am Pier, eine Feier des Lebens in Slowmotion, irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Soll das bedeuten, das hier ist nur ein Traum? Misstraut dem Happy-End, wacht endlich auf und seht Euch um in diesem Land? Oder macht der Regisseur trotzig seinen Frieden mit den Dämonen, beharrt auf der Freiheit zum Tod?
Thomas Vinterberg ist nicht nur ein ungemütlicher, sondern auch ein unergründlicher Filmemacher.

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