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Zarte Bande. Christian mag Marion aus der Süßwarenabteilung.

© Zorro Film

„In den Gängen“ im Kino: Sinfonie für Gabelstapler

Liebe zwischen Supermarktregalen: Thomas Stubers Berlinale-Erfolg „In den Gängen“ kommt jetzt ins Kino. Mit Franz Rogowski und Sandra Hüller in den Hauptrollen.

Von Andreas Busche

Die entscheidende Frage platzt unvermittelt aus Franz Rogowski heraus. „Was würdest Du Dir wünschen, einfach so?“ will der „Frischling“ Christian von Marion aus der Süßwaren-Abteilung wissen. Ihre Antwort ist so entwaffnend und so bestimmt, dass sie die überschaubare Welt zu sprengen droht, in der Thomas Stubers „In den Gängen“ spielt. Marions herausforderndes Grinsen, das Sandra Hüller in den vergangenen Jahren zu ihrem Markenzeichen erhoben hat, zuckt für den Bruchteil einer Sekunde, bevor „Miss Süßwaren“ ganz selbstverständlich entgegnet: „Alles!“

Mit einem einzigen Wort öffnet Stubers Film ein weites Feld an Möglichkeiten, die jenseits des Großmarktes mit seinem betonierten Kundenparkplatz im ostdeutschen Niemandsland reichen. Diese Ödnis, begrenzt von der anliegenden Autobahn, hat die Vorstellungskraft von Marion und Christian noch nie gänzlich eingezäunt. Und wie zum Beweis erklingt im Pausenraum, vor der Fototapete eines Südseestrands, plötzlich ein Wellenrauschen. Zwei Träumer, die keine Begriffe dafür haben, welches Leben ihnen zusteht, sich aber an das Unvorstellbare klammern.

„In den Gängen“ gehörte im Februar auf der Berlinale zum Quartett deutscher Wettbewerbsbeiträge. Er ging im allgemeinen Trubel etwas unter, weil seine Prämisse bescheidener war als Emily Atefs Romy-Schneider-Biopic „3 Tage in Quiberon“ und die Ausführung weniger virtuos als „Transit“ von Christian Petzold. Aber Stubers stille Inszenierung traf den Nerv des Publikums, vielleicht auch weil dieses Amalgam aus Lakonie und Zutiefstmenschlichem ein Sentiment berührt, das einem eher von den Filmen Aki Kaurismäkis vertraut erscheint. Aber ganz sicher nicht von der deutschen Komödie.

Zen-Meister der Spätschicht

Doch verdanken wir nicht eigentlich Thomas Stuber die Entdeckung von Peter Kurth, dem tollsten Kaurismäki-Gesicht des deutschen Kinos? Dem bereits eine Karriere als ewiger Fernsehkommissar drohte, bevor Stuber ihn 2015 für die Hauptrolle als melancholischer Preisboxer und Geldeintreiber in „Herbert“ besetzte – und die ihm den deutschen Filmpreis bescherte. Kurth komplettiert neben Franz Rogowski, der für „In den Gängen“ dieses Jahr die Lola gewann, und Sandra Hüller die platonische Dreiecksbeziehung, die auf einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer basiert.

Ihm ist das dritte Kapitel von Stubers Film gewidmet. Kurths Bruno mit seinen müden Gesichtszügen ist der Zen-Meister der Spätschicht in dieser Arbeitswelten-Tragikomödie. Er nimmt als Veteran der Getränke-Abteilung den neuen Christian unter seine Fittiche, erklärt ihm die Regeln dieses fein austarierten Gebildes aus Routinen und persönlichen Befindlichkeiten. Etwa die „Stapler-Konflikte“ zwischen den Abteilungen: „Wir können nicht so gut mit den Konserven.“ Die Tiefkühl-Sektion heißt hier nur „Sibirien“, deren resolute Chefin ist eine Alliierte. Und Pausen müssen sein. „15 Minuten machen“, nennt Bruno die unerlaubte Auszeit, entweder für zwei Züge Schach mit dem Lagerleiter und eine Zigarette auf der Toilette unter dem Motto „Ohne Dampf kein Kampf.“

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Der Leipziger Bestseller-Autor Clemens Meyer – Stubers regulärer Partner- in-Crime – versteht es, mit solchen beiläufigen Charakterzeichnungen randständige Milieus zu skizzieren. Die Tätowierungen, die unter Christians Hemdkragen hervorlugen, geben einen Hinweis auf seine Vorgeschichte, lange bevor zwei zwielichtige Gestalten aus der Vergangenheit am neuen Arbeitsplatz auftauchen.

Aber es ist Stuber, der nach dem besonders gegen Ende arg melodramatischen „Herbert“ diesen Milieuschilderungen nun eine adäquate Form gibt: mit fließenden Plansequenzen, zu Fuß oder vom Gabelstapler, und makellos geometrischen Einstellungen, die die Ordnungsstruktur der meterhohen Regalreihen vertikal (frontal hinab von der Decke) und horizontal (verstohlene Blicke durch die Stapelware hindurch) durchmessen.

Auf diese Weise erhascht Christian auch erstmals einen Blick auf Marion, die mit ihrer großen Klappe Narrenfreiheit genießt. Stubers Arbeitsplatz-Choreografie zu Walzer-Klängen ist hochmusikalisch: eine Sinfonie für Gabelstapler und zwei gebrochene Herzen.

Keine blühenden Landschaften

Doch die Solidarität in diesem Angestellten-Soziotop endet bei Stuber nicht am Warenausgang. Die Kolleginnen und Kollegen haben Christians Interesse natürlich längst bemerkt und sie bestärken den schüchternen Jungen in seinen ungelenken Avancen. Alle im Markt wissen: Marion ist verheiratet, aber ihre Ehe ist nicht glücklich. Der Großhandel verfasst einen utopischen Ort, den Stuber und Meyer setzen, ohne das ganz große Gesellschaftspanorama aufzuspannen. Im Gegenteil ist „In den Gängen“ gerade dann am wenigsten überzeugend, wenn er die Konsumwelt der Neonbeleuchtung, Arbeitskittel und Supermarkt-Muzak verlässt.

„So sehen Dich die Kunden“ steht an dem Spiegel im Pausenraum, vor dem Christian jeden Morgen seine Hemdsärmel zurechtzupft. Aber die Kunden sind in „In den Gängen“ nicht real, ebenso wenig wie die blühenden Landschaften, die den Menschen zwischen Bitterfeld und Greifswald nach der Wende versprochen wurden. Real ist das Rauschen der Wellen: das Geräusch, wenn die Forke des Gabelstaplers langsam von den oberen Regalreihen heruntergleitet. Und dieses Geheimnis teilen nur Christian, Marion und Bruno.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos

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