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Sommer in voller Blüte. Ein kleiner Junge Anfang Juni im Xinsheng Park von Taipei, der 2010 für die International Flora Expo errichtet wurde.

© AFP

Spaziergänge durch ein Inselreich: In den Labyrinthen von Taiwan

Von A bis Z: Alice Grünfelder sammelt Notizen aus einem Land, das es offiziell gar nicht gibt.

Von Gregor Dotzauer

Mit ein wenig Defätismus könnte man darauf setzen, dass das taiwanische Inselreich im Meer versinkt, ehe die ersten Truppen aus der Volksrepublik China einmarschieren. Alice Grünfelder weist in ihren „Notizen aus einem bedrohten Land“ ganz zurecht darauf hin, dass Taiwan nicht nur von seinem übermächtigen Nachbarn Ungemach bevorsteht, sondern auch vom Klimawandel.

[Alice Grünfelder: Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land. Rotpunktverlag, Zürich 2022. 263 Seiten, 28 €.]

Während aber das Bewusstsein der militärischen Gefährdung noch in der Verdrängung allgegenwärtig ist, will vom massiven Ansteigen des Pazifikpegels und der gleichzeitigen Austrocknung des legendären Sonne-Mond-Sees kaum jemand etwas wissen. Einigen Prognosen zufolge hat die Hauptstadt Taipei nur noch ein gutes Jahrzehnt, um sich vor künftigen Fluten in Sicherheit zu bringen.

Eine vernünftigere Umweltpolitik liegt in der Hand der Taiwaner. Die Besänftigung des großen Drachen kann nur darauf hoffen, dass die bestehenden Kräfte den wackligen Frieden aufrecht erhalten: der Verzicht auf die offene Erklärung der eigenen Unabhängigkeit im Verbund mit Pekings aktuellen Problemen; die familiären, kulturellen und wirtschaftlichen Bande mit dem Festland; sowie die von den USA nicht in Frage gestellte Ein-China-Politik, die auch nach Joe Bidens jüngsten Versprechungen im Kriegsfall nur halbherzig Beistand verheißt.

Taiwans Literatur ist weitgehend unbekannt

Zwischen Reiseführern und den akademischen Früchten der Taiwanstudien gibt es nicht viel, was einem lesend den Zugang zu diesem Land eröffnen würde – wenn man von der taiwanischen Literatur selbst absieht. Ohne einen Platz auf der Longlist des Man Booker Prize hätte es wohl auch ein in seiner Heimat hochdekorierter Erzähler wie Wu Ming-Yi, dessen Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“ jetzt bei Matthes & Seitz vorliegt, nicht auf die internationale Bühne geschafft. Anders als die weltberühmten Regisseure des neuen taiwanischen Kinos, Edward Yang oder Hou Hsiao-hsien, sind die Romanciers und Dichterinnen Randgestalten geblieben.

Alice Grünfelders Versuch, mit „Wolken über Taiwan“ impressionistisch in alle Schichten der Insel hineinzuleuchten, ist schon weil er eine Lücke füllt, aller Ehren wert. Vergleichen lässt er sich nur mit der „Gebrauchsanweisung für Taiwan“, die der dort lebende deutsche Schriftsteller Stephan Thome letztes Jahr veröffentlichte. Die Sinnlichkeit, um die sich die Autorin bemüht, nimmt einen mit in die Gerüche und Geräusche dieser Welt, in ihr Licht und in ihre subtropische Vegetation.

Das Alltägliche der „Für Elise“ dudelnden Müllwagen hat für sie das gleiche Gewicht wie die Geschichte der bis 1945 regierenden japanischen Kolonialherren. Die Begegnung mit dem Wing-Chun-Methusalem Lo Man-kam, der unter anderen Umständen ein zweiter Bruce Lee hätte werden können, beschäftigt sie nicht weniger als ein Ausflug zu den Obdachlosen von Taipei. Und die Reflexionen über das eigene Schreiben und ihre westliche Beobachterinnenposition nehmen so viel Raum ein wie die Suche nach den Spuren des 228-Massakers vom 28. Februar 1947.

Chiang Kai-shek, der Anführer der antikommunistischen Kuomintang, entsandte damals von Nanjing aus Soldaten nach Taiwan, um die Herrschaft seines Statthalters, des Militärgouverneurs Chen Yi, gegen Aufständische durchzusetzen. Bis zu 30 000 Menschen sollen damals ums Leben gekommen sein.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten

Diese unbekümmerte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die zudem zwischen Prosa und Gedicht hin- und herspringt, hat ihre Reize: Ist es nicht genau diese hierarchielose Art und Weise, in der man ein Land kennenlernt? Als Momentaufnahme in Coronazeiten hat „Wolken über Taiwan“, wie dieses Ergebnis eines halbjährigen Aufenthalts überschrieben ist, viele Qualitäten einer kenntnisreichen Reportage. Alice Grünfelder hat überdies das Privileg, zwei Jahre in Chengdu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan studiert zu haben. Die Kultur ist ihr nicht völlig fremd. Das Problem ist, dass ihr Buch im Literarischen mehr sein will, als es seinem journalistischen Wesen nach ist.

Man sieht diesem Text vor allem an, wie wenig er sich vom Notizbuch gelöst hat, dem er entstammt. Am Vormittag, am Nachmittag … Am Montag, am Samstag … Man stapft mit der Autorin durch ein Geröll von Zeitangaben, die in der Organisation des Materials nach alphabetischen Stichworten nichts mehr verloren haben.

Noch störender ist nur die Aufblähung dieses Abécédaire mit Verben des Schauens: Ich sehe … Ich betrachte … Mein Blick geht … Vor lauter Sehen sieht man mitunter nicht mehr, was die Autorin eigentlich sieht. Und wie oft gibt die bekennende Peripatetikerin kund, auf welche Weise sie sich fortbewegt: Ich gehe ... Ich gehe ... Wer sich davon nicht ermüden lässt, kann durchaus Lust bekommen, aufzuspringen und mit Alice Grünfelder durch Taipei zu wandern.

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