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Die vergangenen Monate kamen ihr wie ein Traum vor: Regisseurin Nora Fingscheidt.

© Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

Regisseurin Nora Fingscheidt im Gespräch: „In meiner Klasse galt ich als Arthouse-Tante“

Silberner Bär und deutscher Oscar-Kandidat: „Systemsprenger“-Regisseurin Fingscheidt über ihren außergewöhnlichen Debütspielfilm, der jetzt im Kino startet.

Von Andreas Busche

Frau Fingscheidt, als Sie im Februar mit „Systemsprenger“ im Wettbewerb der Berlinale debütierten, haben viele Ihren Namen zum ersten Mal gehört. Über das deutsche Kino heißt es oft: den ersten Film zu realisieren, sei schwierig. Den zweiten aber, nahezu unmöglich. Haben Sie nach dem Silbernen Bären schon Pläne für Ihren zweiten Spielfilm?
Ich hatte nach der Berlinale 35 Drehbücher in meinem Postfach, das war natürlich toll. Eigentlich trage ich seit zwölf Jahren eine Idee mit mir herum, die ich endlich weiterentwickeln will. Aber dann wurde mir völlig unerwartet ein Filmprojekt im Ausland angeboten, das ich nicht ablehnen konnte. Die Dreharbeiten beginnen im Februar. Mehr darf ich dazu momentan leider nicht sagen.

Sie wurden im August als deutsche Kandidatin für den Fremdsprachen-Oscar nominiert. Ein Zeichen, dass sich die Branche verändert? Beim deutschen Oscar-Komitee zählten in der Vergangenheit große Namen mehr als die Originalität eines Films.
Vielleicht wollte das Auswahlkomitee was Neues ausprobieren. Die Aufmerksamkeit für „Systemsprenger“ ist nach der Berlinale explodiert. Über den Alfred-Bauer-Preis hab ich mich besonders gefreut, den erhalten Filme, die neue Perspektiven der Filmkunst eröffnen. Das bedeutet eine Wertschätzung der Form.

Ein Problem des deutschen Kinos besteht darin, dass Filme oft über ihre Themen ihr Publikum finden müssen. In „Systemsprenger“ geht es um eine verhaltensauffällige Neunjährige, um Intensivpädagogik und Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen. Er ist aber auch ein gutes Beispiel, dass sich Erzählkino und experimentelle Stilmittel nicht ausschließen.
Es war mir total wichtig, den Inhalt in eine Form zu übersetzen. Benni ist ein anstrengendes Kind, von allem irgendwie zu viel. Dieses „zu viel“ habe ich konsequent übertragen: ins Drehbuch, den Schnittrhythmus, die Farbgestaltung, die Musik, die ab und zu auch leicht nervt. „Systemsprenger“ ist mit 119 Minuten ja eigentlich auch zu lang, das ist aber beabsichtigt. Das Publikum soll am Ende das Gefühl von Erschöpfung und Überforderung nachvollziehen können.

Es geht in „Systemsprenger“ um eine körperliche Energie, die die Kräfte der Pädagogen und der Familien aber auch langsam aufzehrt. Warum war es Ihnen wichtig, die psychische Kondition von Benni als Ausdruck von Individualität zu erzählen?
Lange bevor ich über das Thema gestolpert bin, hatte ich schon die Hauptfigur im Kopf. Eigentlich schon, seit ich Filme machen wollte. Mir persönlich geht es wirklich um diesen einen kleinen wilden Menschen, weniger um ein gesellschaftliches Phänomen. Aber natürlich ist dieses Phänomen auch wichtig und ich merke jetzt, wie groß das Bedürfnis ganz vieler Menschen ist, über Kinder wie Benni und Erwachsene wie die Pflegemutter Frau Bafané und den Jugendbetreuer Micha zu reden. Die ursprüngliche Idee war aber wirklich nur, dass man ein mit allen Sinnen erfahrbares Erlebnis im Kino schafft.

Die neunjährige Benni (Helena Zengel) überfordert die Erwachsenen mit ihren Wutausbrüchen. „Systemsprenger“ läuft in 13 Berliner Kinos.
Die neunjährige Benni (Helena Zengel) überfordert die Erwachsenen mit ihren Wutausbrüchen. „Systemsprenger“ läuft in 13 Berliner Kinos.

© Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

Wie lange haben Sie recherchiert?
Ich habe über vier Jahre recherchiert, dabei haben sich Schreibphasen und Recherchen abgewechselt. Zum Teil habe ich ein oder zwei Wochen in Institutionen mitgearbeitet, dann habe ich mich wieder an den Schreibtisch zurückgezogen.

Ihre Karriere ist untypisch. Sie haben mit 20 an der „Filmarche“, einer unabhängigen Filmschule in Berlin, gearbeitet. Danach studierten Sie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg das Fach „Spielfilm“, haben dann aber mit dem Dokumentarfilm „Ohne diese Welt“ abgeschlossen. Der erhielt unter anderem den Max Ophüls Preis. Nennt man so was im deutschen Kino einen gebrochenen Lebenslauf?
Allein mein Studium dauerte neun Jahre, weil zwischendurch mein heute achtjähriger Sohn geboren wurde. Ich habe nach der Geburt das Tempo gedrosselt, auch immer wieder mal dokumentarisch gearbeitet. Zu diesen Dreharbeiten konnte ich teilweise meinen Sohn mitnehmen. Ich hätte nie ein Jahr pausieren können, dafür liebe ich meine Arbeit zu sehr. Aber es war zeitweise schwierig, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen. Ohne mein familiäres Netzwerk wäre das nicht gegangen.

Haben Sie die Zeit in Ludwigsburg genutzt, um gewissermaßen im Schutz der Filmakademie Ihr Portfolio aufzubauen?
Ich habe das nicht strategisch geplant. Mein Studium hat sich auch deshalb verzögert, weil ich viel ausprobiert habe. „Systemsprenger“ hätte mein Abschlussfilm werden sollen. Zu meiner Zeit benötigte man dafür aber noch den Letter-of-Intent eines Fernsehsenders. Den Stichtag hatte ich verpasst. Darum musste ich schnell „Ohne diese Welt“, meinen Dokumentarfilm über eine Mennonitengemeinde in Argentinien, drehen. Die Akademie war so kulant, dass ich als Absolventin der Spielfilmklasse einen Dokumentarfilm abgeben durfte.

Üben die Sender schon in den Filmhochschulen einen so starken Einfluss aus?
In Ludwigsburg braucht man dieses Schreiben nur für Spielfilme. Die Ausbildung an der Filmakademie orientiert sich sehr am Markt. Man will, dass möglichst alle Absolventinnen später in der Branche unterkommen.

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Das heißt, dass man schon auf der Filmschule auf Fernsehformat getrimmt wird?
Ich kann verstehen, wenn dieser Eindruck entsteht. In meinem Fall muss ich das verneinen. „Systemsprenger“ wurde vom Kleinen Fernsehspiel ko-produziert, der Redakteur Burkhard Althoff hat mir alle kreativen Freiheiten gelassen. Wir hatten zuvor schon an „Ohne diese Welt“ zusammengearbeitet, ein sehr langsamer Film, in dem zwei Stunden lang kaum geredet wird. „Ohne diese Welt“ war fürs Kino konzipiert, wir haben viel mit dem Sound und weiten Einstellungen gearbeitet. Man braucht für so einen Film einen umsichtigen Produzenten und einen mutigen Redakteur. Kollegen haben mir von Fällen erzählt, da hatten sie fünf verschiedene Redakteure vor sich, die alle mitreden. Dann wird es ein Balanceakt. So entsteht kein radikales Kino.

Sie haben sechs Jahre an „Systemsprenger“ gearbeitet, das Drehbuch gewann drei Förderpreise. Das klingt nicht gerade nach Planungssicherheit.
Filmförderung ist kompliziert, viele Maßnahmen greifen noch gar nicht an den Hochschulen. Heute bin ich aber froh, wie es gelaufen ist. Durch die Drehbuchpreise kam immer wieder Geld für „Systemsprenger“ rein, die Auszeichnungen für „Ohne diese Welt“ haben die Finanzierung ebenfalls begünstigt. Das war viel Stückwerk. Am Ende konnten wir das Drehbuch aber so umsetzen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Preise hatten daran sicher ihren Anteil. Sie haben dem Buch eine gewisse Autonomie verschafft.

Nora Fingscheidt mit ihrem Silbernen Bären bei der Berlinale-Preisverleihung.
Nora Fingscheidt mit ihrem Silbernen Bären bei der Berlinale-Preisverleihung.

© REUTERS/Hannibal Hanschke

Inwiefern waren Ihre Erfahrungen als Autodidaktin während des Studiums hilfreich?
Das war wie ein Frontenwechsel. An der „Filmarche“ habe ich gelernt, wie wichtig der Zusammenhalt ist. Dort gibt es keine Strukturen, man muss alles selbst organisieren. Aber es war auch alles möglich, ich konnte zum Beispiel eine experimentelle Slapstick-Komödie mit Animationselementen drehen. Die einzige Limitierung war das Geld. Darum wollte ich noch mal in das andere Lager. An der Filmakademie traf ich auf Kommilitonen, die schon zwei oder mehr Jahre an professionellen Filmsets gearbeitet hatten. Die haben sich dann auch mal geärgert, wenn die Technik nicht funktionierte.

Gab es keinen Dünkel gegenüber Ihrer „Herkunft“?
Das nicht. Aber ich galt in meiner Klasse immer eher als die „Arthouse-Tante“. Es war meine bewusste Entscheidung, nach Ludwigsburg zu gehen. Ich habe diese Reibung gesucht.

Ganz ehrlich: Mussten Sie mehr leisten als ihre männlichen Kollegen, um dahin zu kommen, wo Sie heute stehen?
Ich glaube nicht. Aber als ich mit 20 bei der „Filmarche“ anfing, hat mir ein namhafter Regisseur gesagt: „Nora, wenn du Erfolg haben willst, musst du doppelt so gut sein wie die Männer.“ Da habe ich erstmal Panik gekriegt. Danach habe ich die Scheuklappen aufgesetzt und einfach so weitergemacht wie vorher.

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