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Denis Podalydès als Tartuffe und Marina Hands als Elmire (vorne). Julien Frison, Dominique Blanc, Loïc Corbery (hinten).

© Jan Versweyveld

In Paris startet das Moliére-Jahr: Pariser Nationaltheater zeigt „Tartuffe“

Zum 400. Geburtstag Molières: an der Comédie-Française wird „Le Tartuffe ou l’Imposteur“ in der Urfassung aufgeführt.

Man weiß nicht genau, wann Jean-Baptise Poquelin, genannt Molière geboren wurde. Aber man weiß, dass er am 15. Januar 1622 in Paris getauft worden ist. Am Jahrestag versammelten sich nun die knapp siebzig Ensemblemitglieder der Comédie-Française auf der Bühne, alle mit selbst gewähltem Kostüm und einer artig aufgesagten Zeile aus einem seiner zahlreichen Stücke.

So begann das Molière-Jahr am Pariser Nationaltheater, das man gerne „La Maison de Molière“ nennt, weil dort die gefeierte Theaterarbeit des Schauspielers und Chef de Troupe in einer Institution fortgesetzt werden sollte.

Als ob das ginge: Das Fluide des Theaters in feste Strukturen zu gießen. Eine Molière-Gedenkmünze wird es geben, eine musikalisches Programm in Versailles im Frühsommer, Ausstellungen und Kolloquien und eine Art Nationaldiktat, an dem sich alle staatlichen Hörfunkwellen beteiligen werden. Denn wie nennt man doch gleich das Französische: „La Langue de Molière“. 400 Jahre Molière, das ist auch ein pädagogisches Projekt.

Regisseur Ivo von Hove setzt nicht auf den Sittenkonflikt

Die erste Neuinszenierung an der Comédie-Française verantwortet der Belgier Ivo van Hove mit dem meistgespielten Stück im Molièrerepertoire des Hauses. „Le Tartuffe ou l’Hypocrite“.

Die erste Fassung von 1664 gab der Sonnenkönig nicht für die Öffentlichkeit frei. Es brauchte zwei weitere Versionen, bevor das Stück fünf Jahre später aufgeführt werden durfte. Der König hatte Ärger mit der in sich zerstrittenen katholischen Kirche.

Der Grund für sein Verbot war Staatsraison, keine Geschmacksfrage. Molière hat die Geschichte vom heuchelnden Frömmler schließlich zu einer veritablen Kriminalgeschichte umgemodelt, mit einem Deus-Ex-Machina-Effekt dem König gehuldigt und dessen Justiz zur Lösung eines Familienproblems auserwählt. Ärger mit Politik und Religion ist dem Stück seit seiner Entstehung eingeschrieben.

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Königinmutter Anna von Österreich und der Erzbischof von Paris waren damals die Verbotsbetreiber, heute hat der Kulturbetrieb in Frankreich immer noch Probleme mit radikalen Katholiken, die sich jetzt über soziale Netzwerke organisieren. Vor kurzem schafften sie es, ein Orgelkonzert der Schwedin Anna von Hausswolff zu verhindern. Sie sei ein Satanistin, hatte jemand gepostet.

Vor Jahren versuchte die Szene, die Pariser Aufführung von Romeo Castelluccis Stück über das Antlitz Christi zu verhindern. Der Tartuffe ist eine Steilvorlage für jeden, der beim Thema Cancel Culture historische Verbindungen herstellen wollte. Ivo van Hove tut das nicht: Er inszeniert die vom Molière-Forscher Georges Forestier rekonstruierte Urfassung von 1674, deren Text verloren gegangen war.

Unbekannte Gefühlswelten

Am Anfang, wenn noch kein Wort gefallen ist, sehen wir Orgon, wie er in einem Kleiderhaufen einen Männerkörper entdeckt, wie er ihn heraus holt, wie seine ganze Familie den Mann behutsam entkleidet, badet und mit Anzug und Krawatte ausstattet. Da wird mit einem Bild stiller Barmherzigkeit ein Penner ins Leben zurückgeholt. Nur einmal ist in Ivo van Hoves Tartuffe-Inszenierung die Religion ein Thema: Im Eingangsbild. Das Religiöse kommt also mit dem Heuchler Tartuffe nicht plötzlich in die Familie.

Tartuffe ist für Orgon, seine Frau Elmire, seinen Sohn Damis und all die anderen mit Ausnahme der lebensklugen Dienerin Dorine eine Projektionsfläche für unbekannte Gefühlswelten; sowie ein Lehrmeister vor allem für den emotional ausgedörrten Familienvater Orgon, den der Schauspieler Denis Podalydès verkörpert.

Ivo van Hove legt Tartuffe als eine Figur mit großen affektiven Fähigkeiten an, jemand, der mit jeder und jedem in dieser dysfunktionaler Familie unterschiedlich umgeht, insbesondere mit der unterdrückten Homosexualität des Hausherren. Wie in einem bizarren Ritual stehen sich Orgon und Tartuffe, gespielt vom smarten Christophe Montenez, gegenüber, lassen ihr Hände sich annähern und umkreisen, ohne sich je zu berühren. Ein eindringliches Bild unterdrückter Homoerotik.

In der Szene kommt keine Sprache aus den Mündern sondern unförmige Laute: Aufruhr der Triebe. Ansonsten dient die reiche Sprache Molières als Maske, mit der man vorzüglich über Wertmaßstäbe debattieren kann und sich derweil prügelt, seelisch misshandelt oder an die Wäsche geht. Elmire und Tartuffes Liebesszenen sind mehr als eine Versuchsanordnung, um Orgon Tartuffes Machenschaften zu beweisen. Die beiden sind wirklich ein Liebespaar.

Gestörtes Mutterverhältnis

Zum Schluss greift dann die Regie in die Dramaturgie ein und verschärft, was in ihr angelegt ist: Alle haben nun das Spiel verstanden, das hier gespielt wird, bis auf Madame Pernelle, die sittenmoralisch verbohrte Mutter des Familienvaters. Und klar ist jetzt auch: Alles Unheil dieser Familie wurzelt in dem verqueren Verhältnis von dieser Mutter und ihrem moralisch verpeilten Sohn. Dieser Spoiler muss sein und stört nicht den Genuss an der Comédie-Française – Madame Pernelle wird rasch mit Blumen bedeckt und in den Flammen eines Krematoriumsofen entsorgt. Und es geht weiter: Orgon wird der Penner, der Tartuffe am Anfang war. Dem Heuchler ist nun alles zugefallen: Orgons Reichtum, Frau Elmire, die von ihm ein Kind erwartet und auch der Rest der geläuterten Familie. Ein zynisches Schluss. Ein böses Ende.

In dieser Welt funktioniert besser, wer sein Wertesystem je nach Situation flexibel umdeutet. Darin ist Tartuffe ein Meister. Die falsche Frömmigkeit, die das Stück umflort, und die die französische Theaterikone Ariane Mnouchkine in den 1990er Jahren noch erfolgreich mit dem Islamismus aktualisierte, ist hier weitgehend getilgt. Ivo van Hove interessiert nicht der Konflikt von gespielter und erlebter Sittlichkeit, sondern der Konflikt von gespielter und erlebter Emotionalität. Das Molière-Jahr beginnt politisch, wenn auch nur als Politik des Privaten.

Eberhard Spreng

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