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Die Berliner Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke. Sie wuchs unter anderem auf Teneriffa auf.

© Dagmar Morath/Verlag

Deutscher Buchpreis 2018: Ruppige Behaglichkeit

Für „Archipel“ hat sie den Deutschen Buchpreis 2018 erhalten: Lesen Sie hier erneut die Rezension von Inger-Maria Mahlkes gewagtem Teneriffa-Roman.

Dieses Buch will ganz viel, und es steckt auch ganz viel drin. Inger-Maria Mahlkes Roman „Archipel“ ist ein Sittengemälde vom äußersten Rand Europas, von der Kanareninsel Teneriffa. „Archipel“ ist aber auch ein Familienroman, der über mehrere Generationen hinweg vom Aufstieg, Fall und Verharren der Figuren in ihren sozialen Milieus erzählt.

Und überdies von politischen Brüchen in der Geschichte Spaniens, vom Faschismus und den Nachwehen des Kolonialismus, ganz nebenbei von der Entwicklung des Massentourismus und den Versuchen, eine nachhaltige Urlaubswirtschaft zu etablieren. Darüber hinaus geht es um die Mühen der Altenpflege und die Sinnsuche einer jungen Generation, die von den Kanaren flieht – und wieder zurückkehrt.

Der Roman heißt nicht nur „Archipel“, er ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Art Inselgruppe mit sehr unterschiedlichen Eilanden, die unterirdisch miteinander verbunden sind und von Mahlke sowohl in literarischer Lupenansicht als auch aus einer Art Helikopter-Perspektive untersucht werden. Als wäre dies nicht allein eine literarische Herausforderung, bietet der Roman formal und inhaltlich ein alles überwölbendes Hauptthema, und das besteht im beeindruckenden Versuch, Geschichte und Lebensgeschichten gegen die bedingungslose Macht der Zeit zu erzählen.

Der Roman wird rückwärts erzählt

Die Verwicklungen und Verstrickungen der Bautes, Bernadottes und all der anderen Familien, die diesen Roman bevölkern, werden nämlich von Kapitel zu Kapitel rückwärts durch die Epochen vorgetragen. Es beginnt 2015, am Ende sind wir im Jahre 1919 angelangt. Das kapitelweise Rückwärtserzählen bei gleichzeitigem Vorwärtserzählen innerhalb der Kapitel und der ständige Perspektivwechsel (ein personales Erzählen jeweils nah an den vielen Figuren) setzen eine sehr aufmerksame Lektüre voraus, und zuweilen hilft es, im Register der „handelnden Personen“ nachzuschauen, wer in welcher Szene gemeint ist. Mahlke hätte es sich und dem Publikum leichter machen und ein süffiges, linear aufgebautes Epos schreiben können – aber das widerspricht dem poetischen Programm einer Autorin, die ihre Leser und auch sich selbst inhaltlich und formal offenbar immer wieder überraschen will.

Mahlke beweist kriminalistisches Gespür

So verlegt Inger-Maria Mahlke ihre Geschichten mal in ein Neuköllner Mietshaus, wie in ihrem Debütroman „Rechnung offen“. Oder sie beschreibt wie in „Wie ihr wollt“ das Leben einer kleinwüchsigen Adligen im sechzehnten Jahrhundert. Alle ihre Bücher verbindet eine gewisse Lust, das Raue und Brüchige von glatt erzählbaren Biografien herauszuarbeiten, was vielleicht auch daran liegt, dass Mahlke nach einem Studium der Rechtswissenschaften eine Zeitlang am Lehrstuhl für Kriminologie der FU Berlin gearbeitet hat. Auch in „Archipel“ beweist Mahlke kriminalistisches Gespür, indem sie manche Erzähllücken erst spät mit biografischen, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Umständen schließt. So fühlt man sich als Leser zuweilen wie eine der Nebenfiguren: „Einar hat nicht wirklich eine Ahnung, wofür die Abkürzung Frente Polisario steht. Es geht um spanische Kolonialpolitik und Westsahara, um Gebiete, die irgendwie nicht richtig zurückgegeben wurden.“

Tatsächlich ergeben sich aus der gewagten Romankonstruktion auch Erzählprobleme, die Mahlke nicht immer elegant lösen kann: Aufgrund der Struktur muss sie an manchen Stellen schon Bekanntes wiederholen, beim rückwärtschronologischen Ritt durch die Epochen viele historische und lokalkulturelle Zusammenhänge erklären, was nicht unbedingt zum Lesefluss beiträgt.

Der Irrsinn der ganz normalen Korruption

Mahlkes Roman ist ein Angriff auf historistische Wohlfühlprosa, eine Absage an eine klassische, auf psychische Muster basierende Figurenentwicklung und als Kritik am literarischen Manufactum-Gefühl, das sich suhlt in der Bestätigung, dass es sie noch gibt, die guten Dinge. Das ist ehrenwert. Doch zuweilen richtet sich leider auch Mahlkes Roman im Tonfall ruppiger Behaglichkeit ein, etwa wenn vom Irrsinn der ganz normalen Korruption erzählt wird: „Ein Entwicklungsfonds schüttet Gelder aus, zwei Jahre später noch einmal, die üblichen Probleme beim Straßenbau. Schließlich ist die Auffahrt fertig, ein spanischer Abgeordneter des Europäischen Parlaments kommt aus Brüssel zur Einweihung. Im nächsten Sommer wirft der Asphalt Blasen, die aufbrechen, aber das macht nichts (…). Ermittlungen werden eröffnet, ein bisschen Schriftverkehr.“

Das ist zwar durchaus ironisch formuliert, aber weder politisch noch literarisch erhellend, selbst wenn man diese Zeilen als beschränkte Innensicht der kanarischen Inselpolitikerin Ana versteht. Während Mahlke sich in solchen Aktualitäten verfängt und trotz der aufwändigen Erzählkonstruktion keine neue Sicht auf die Inselverhältnisse anzubieten vermag, zeigt sie ihr schriftstellerisches Können, wenn sie den Alltag der Leute bildstark schildert. Ob wir im „Asilo“ beim 90-jährigen Julio zu Besuch sind oder ein paar Jahrzehnte später die immerwährende Arbeitsroutine der Haushaltshilfe Merche erleben, hier wie dort werden die einfachen Worte zu großer Kunst: „Merche steht auf, Haare feucht vom Tau, Kleid klamm, Beine eingeschlafen, pinkeln muss sie auch, und der Besen trifft ihre Oberschenkel, aber Merche schert das nicht.“

Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen

„Auf die Zukunft!“ rufen die Menschen in La Laguna, der ehemaligen Hauptstadt des kanarischen Archipels, auf einer Silvesterparty, und im Rahmen des Romans liegt diese Zukunft schon hundert Jahre in der Vergangenheit. Die Zukunft ist gerade für die Bediensteten auch am Rande Europas nicht rosig. Dieser Aspekt des vielschichtigen Romans verdient zum Schluss besondere Beachtung, zeigt er doch wie nahezu „zeitlos“ die Klassenverhältnisse bis heute sind. Auch Merches Nachfahren putzen weiterhin für die Reichen. Auf diese Weise wird die literarische Reise in die Inselvergangenheit schließlich zu einer ernsten und umfassenden Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse: So wie die Zeit im Roman zurückgedreht werden kann, so muss die Zukunft keineswegs dem Schicksal überlassen, sondern kann sinnvoll gestaltet werden. Selbst wenn nur im Kleinen etwas bewegt wird, wie Anas Tochter Rosa in Julios Altenheim beweist.

Trotz mancher Einwände: Mahlkes für die Roman gehört zur anspruchsvollsten Literatur, die derzeit in deutscher Sprache geschrieben wird.

Inger-Maria Mahlke: Archipel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 Seiten, 20 €.

Carsten Otte

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