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Alltagsimpressionen aus dem Vor-Wende-Berlin.

© Foto: Imago

Jan Faktors Ost-Berlin-Roman „Trottel“: Spuren der real existierenden Dederonie 

Jan Faktor verarbeitet in seinem autobiografischen Roman „Trottel“ den Tod seines Sohnes – und die DDR. Und behauptet sich damit als wortgewandter Gegenwartsautor.

Die Figur des Schelms ist, gerade in der tschechischen Literatur, eine etablierte Größe. Auf seine schlawinerhafte Weise ist der Schelm ein Souverän seines Lebens. Das aber ist Jan Faktor gerade nicht. Deshalb zieht er in seinem neuen autobiographischen Werk die Bezeichnung „Trottel“ vor. Der Trottel hat viel vom Schelm, er präsentiert sich als vom Glück verfolgter Lebenskünstler, aber es gibt da auch eine dunkle Seite des Versagens und Versäumens. Trotteltum als Schicksal und Fluch, wie es einer der härtesten Sätze dieses Buches formuliert: „Mein Sohn wurde genauso wie ich als Trottel geboren, er kämpfte dagegen ehrenhaft und lange genug an – und er hat sich schließlich aus Scham über sein in eine Sackgasse geratenes Trotteltum umgebracht.“

Jan Faktors einziger Sohn hat vor zehn Jahren mit Anfang dreißig Selbstmord begangen. Dieses Unfassbare ist das zentrale dunkle Motiv des Romans. Ein Vater erzählt von der Katastrophe seines Lebens, die er lange nur mit vielen Medikamenten durchstehen konnte, bis das wirksamste Medikament ein wenig half: die vergehende Zeit. Es dauerte Jahre, bis er darüber schreiben konnte.

Peinlich-peinigende Details und Sprachwitz

In behutsamem Ton vergegenwärtigt er nun die Leidensgeschichte des psychisch kranken Sohnes, berichtet von der frühen Verdüsterung des mal engelhaft, mal wie ein besorgter Greis wirkenden Kindes, von seinen jugendlichen Depressionen und Manien, seinen eigenwilligen Versuchen, mit dem Chaos des Lebens zurande zu kommen. Bis schließlich „alles um ihn zu bröckeln begann“. Auch wenn Faktor sich nicht in Schuldfühlen ergeht, bezeichnet er sich einmal doch als „Vererber und Verderber“.

Umso erstaunlicher, dass „Trottel“, von den Sohn-Kapiteln abgesehen, ein höchst übermütiges Werk ist, wie schon Faktors 2006 erschienenes Debüt „Schornstein“, eine furiose Patientenbeichte, die von einem tragikomischen, an Michael Kohlhaas erinnernden Feldzug gegen die Gesundheitsbürokratie handelt. Mit diesem „Kassenkampf“-Roman hat sich Faktor als Prosa-Größe der deutschen Gegenwartsliteratur etabliert; die Mischung aus grotesken, peinlich-peinigenden Details und Sprachwitz wurde zu seinem Markenzeichen.

1951 in Prag geboren, siedelte Faktor in den siebziger Jahren seiner Frau (einer Tochter von Christa Wolf) zuliebe nach Ost-Berlin über und arbeitete dort zunächst als Kindergärtner, Schlosser und Übersetzer. Bald gehörte er zur Prenzlauer-Berg-Szene, war ihr „Schalksnarr“, wie Adolf Endler einmal schrieb. Man glaubt es gerne bei Lektüre dieses Buches, dessen Schauplätze das in seiner prächtigen Bausubstanz erhaltene Prag und Ost-Berlin sind, wo es um 1980 vielerorts noch so aussah, als wäre der Zweite Weltkrieg gerade erst zuende gegangen.

In Prag allerdings war die Wohnungsnot größer: „Auch vollständig verfeindete Ehepartner wohnten jahrzehntelang weiter zusammen, weil sie einfach nicht auseinanderziehen konnten. Im Bekanntenkreis unserer Familie war das fast die Regel.“ In Ost-Berlin mit seiner „hochgradigen Wohnraumbeschaffungsanarchie“ konnten junge Familien hingegen Platz finden, etwa durch eigenmächtige Wanddurchbrüche in den halb verfallene Altbaulandschaften des Prenzlauer Bergs.

Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren und ging in den 1970ern nach Berlin.
Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren und ging in den 1970ern nach Berlin.

© Foto: Imago

Zum Interessantesten des Buches gehören die historischen Miniaturen und Anekdoten aus der „real existierenden Dederonie“, wie Faktor die DDR nach ihrem beliebtesten Beutelstoff benennt. Wobei er nicht den gewohnten Schneisen der Erinnerung folgt, dafür aber umso intensiver lebensweltliche Details vergegenwärtigt wie die eingefrorenen Außentoiletten im winterlichen Scheunenviertel, wodurch die Bewohner noch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gezwungen waren, ihr großes Geschäft in Zeitungspapier zu verrichten und in den Hinterhof-Mülltonnen zu entsorgen oder auf die Straße zu werfen. „An manchen Tagen waren die Straßen in der Gegend mit zerknüllten Zeitungen reichlich übersät.“

Faktor feiert die Kaputtheit der DDR

Es gibt die Auffassung, dass der „nachgereifte Sozialismus“ nach Bürgerkriegshorror, Kollektivierung, Entkulakisierung, Holodomor, Säuberungswellen und Gulags in den siebziger Jahren „zu einer gewissen Gemütlichkeit gefunden“ habe. Mit einer solchen, aus historischem Abstand noch zunehmenden Weichzeichnung will Jan Faktor nichts zu tun haben. Bei aller Skurrilität wird in seiner Darstellung die DDR als Angstgesellschaft erkennbar. Viele Gesprächspartner seien bleich geworden, wenn der Trottel sich ihnen gegenüber sozialismuskritisch äußerte, auch wenn keine mitlauschende Stasi zu befürchten war. Die Plattenbau-Spätmoderne der DDR, die sich als architektonischer Siegeszug des Sozialismus gerierte, kann Faktor bis heute nicht ausstehen. Sie ist für ihn die „in Verschalungen gegossene“ Legitimation des „millionenfachen Mordens in der Sowjetunion“.

Es ist nicht der Aufbauwille, sondern die Kaputtheit der DDR, die Faktor als Bedingung eines improvisierten, von zu viel Ehrgeiz verschonten Lebensstils feiert. Die Ambivalenz ist ihm wichtig: „Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an die alte verschlafene DDR – er ist aber gleichzeitig voller Abscheu. Das passt leider nicht wirklich zusammen“, lautet eine der fünfzehn parodistischen Selbstrezensionen im Buchdeckel. Zutreffend wird sie mit einer kleinen Änderung: Nur so passt es zusammen.

Liebeserklärung an die halb verfallenen Altbaulandschaften des Prenzlauer Bergs.
Liebeserklärung an die halb verfallenen Altbaulandschaften des Prenzlauer Bergs.

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Während sich viele Autoren auf die Erfindung eines interessanten Plots konzentrieren und sich beim Stil auf das verlassen, was der Sprachbaukasten an Formulierungen so hergibt, geht Faktor genau umgekehrt vor. Sich einen Plot auszudenken, erscheint ihm fast als Zumutung; die Handlung (sofern davon die Rede sein kann) bleibt ganz auf sein eigenes Leben und Erleben beschränkt. Unerschöpflich ist dagegen sein sprachlicher Erfindungsreichtum, die Lust an der Wortspielerei und an kalauernden Neologismen.

Gleich nach seiner Geburt habe er eine „Wut auf sprachliche Klischees und abgenutzte Wendungen“ entwickelt, scherzt er einmal. Und spottet, dass es „Menschen gibt, die sich in der Literatur für Themen interessieren“. Faktor brennt eine verbale Pyrotechnik ab, als wollte er eine Entsprechung finden zum flammenden Budenzauber seiner Lieblingsband Rammstein. In deren Musik und der Lyrik Till Lindemanns wittert er viel mehr Raffinesse, als es die skeptischen deutschen Feuilletons für möglich halten würden. Die auf festen Akkorden gebaute Rammsteinmusik bietet Faktor Halt im Leben.

„Trottel“ ist ein räsonierendes Schwadronierkunstwerk, das in lustiger Selbstreferenzialität ständig mit sich selbst beschäftigt ist. Da werden den gerade formulierten Sätzen kleine Kommentare in Form zahlreicher Fußnoten hinterhergeworfen; da wird vorausverwiesen und zurückgezwinkert und die (vermeintliche) Spontaneität des Erzählakts zelebriert. Bevor man aber den Überdruss an der Sprachspielerei bekommen könnte, schiebt der Autor wieder ein Kapitel über den kranken Sohn ein, in dem die übermütige Stimmung umschlägt. Ernst und Trauer tendieren zu schlichten Worten.

Die Eigenrezensionen im Buchdeckel dienen dazu, mögliche Einwände der Kritiker gegen den Roman einfallslos aussehen zu lassen. Sie werden dadurch aber nicht ungültig. Es gibt auch eine Menge Leerlauf in diesem Buch. Öfter sind die Worte origineller als die Gedanken. Sätze wie „Dazu kann der Denkosoph in mir vorläufig nur Folgendes anmerken“ wirken so gespreizt wie überflüssig. Bisweilen wird das Spiel mit dem erzählerischen Chaos allzu kokett, als würde dahinter eine umso raffiniertere Struktur auf die Entdeckung durch kluge Leser warten.

Danach wird man wohl vergeblich suchen. Aber weil Faktors tolldreiste Prosa so viel Charme hat, ist man geneigt, das Chaos als natürliches Habitat des Trottels zu goutieren. Zuviel „Roman“ sollte man von diesem Buch nicht erwarten, aber als experimentelle Autobiographie ist es eine der schrägsten und kunstvollsten Lektüren dieses Herbstes. Und zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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