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Jarvis Cocker am Donnerstagabend in Frankfurt

© Bartels

Jarvis Cocker auf der Frankfurter Buchmesse: Disco 2022

Guter Pop, schlechter Pop: Der Pulp-Mastermind hat in Frankfurt seine ungewöhnliche Autobiografie vorgestellt.

Man vergisst das leicht in diesen Tagen der Frankfurter Buchmesse, die bestimmt wird vom Krieg in der Ukraine, den Problemen der Buchbranche und den unfassbaren Hetzjagden in den sozialen Medien auf Kim de l’ Horizon nach der Vergabe des Deutschen Buchpreises: Es gibt auch noch Pop, guten Pop, schlechten Pop. In diesem Jahr läuft dieser nicht unter der Kategorie Helene Fischer, Scooter oder Helmut Kohl, sondern er kommt aus dem Ressort Britpop, nach britischem Selbstverständnis sowieso der einzig wahre Pop.

Jarvis Cocker ist in Frankfurt, der Sänger von Pulp, um sein Buch „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens“, erst am Stand seines deutschen Verlags, wo ihn am Donnerstagnachmittag die Tennisspielerin und Journalistin Andrea Petković moderiert, dann abends in einem Laden in der Mainzer Landstraße, der „Freitagsküche“.

Das Album „Different Class“ ist ein Klassiker

Cocker gehörte mit seiner Band zu den großen Figuren des Britpop der neunziger Jahre. Pulp waren immer die beste Alternative zu Blur und Oasis, weil zum einen nicht so lautsprecherisch, zum anderen more sophisticated, feiner, im Grunde auch glamouröser. Das Pulp-Album „Different Class“ mit seinen Hits „Disco 2000“ und „Common People“ ist ein Klassiker, ikonisch geradezu.

Wie so viele alternde Popstars hat der 1963 in Sheffield geborene Cocker nun ebenfalls seine Autobiografie geschrieben; doch eben nicht irgendeine, brav chronologische, die die großen Zeiten Revue passieren lässt. Nein, Cocker erzählt sein Leben bis zur Gründung und den frühen Jahren von Pulp, das Buch endet 1985. Und der Leitfaden dabei sind eben jene Dinge seines Lebens, von „Wrigley’s Extra Kaugummi“ über eine Seife der Marke „Cussons Imperial Leather“ bis hin zu Comicheften, natürlich Klamotten und einem Wecker mit einer Ballerina in einer Seitenkammer. Man fühlt sich an Andy Warhol und seine „Campbell´s“ Dosen erinnert, auch an das „Museum der Unschuld“, das der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gebaut hat, doch vor allem ist diese Herangehensweise natürlich Pop-immanent.

Wie schreibt es Jarvis Cocker zu Beginn seines Buches, als er den Bandnamen Pulp erklärt und gleichzeitig „Good Pop, Bad Pop“ einen Überbau gibt: „Denn die Vorstellung, dass eine Kultur durch ihre Wegwerfartikel mehr über sich aussagt als durch ihre vermeintlich verehrten Kunstwerke, faszinierte mich. Fasziniert mich immer noch. Muss alles BLEIBEN fürchte ich.“ Das ist eine Definition von Pop, die seine seit zwei Jahrzehnten stattfindende Kanonisierung gleich mitbedenkt.

Jarvis Cocker trägt an diesem Abend in der „Freitagsküche“ ein Tweed-Sakko, ein schwarzes Hemd und dunkelblaue Jeans; großartig sieht er aus, auch mit seiner notorisch großglasigen Brille und den langen, etwas dünn werdenden Haaren. Cocker ist ein Gentleman-Popstar, der sich im Gespräch nicht lange bitten lässt. Was nicht zum Outfit und Auftreten passt: der graue Müllsack, mit dem er gekommen ist. Doch hat der natürlich seine Funktion. Darin befinden sich ein paar der Sachen aus Cockers Leben, die er zu Demonstrationszwecken mitgebracht hat.

Nach und nach holt er sie hervor und zeigt sie dem Publikum: das erste Hemd, das er sich in einem Second-Hand-Laden gekauft hat, ein gelbschimmernd-gepunktetes „Gold-Star“-Hemd; das Schulheft, in das er in jungen Jahren den „Pulp-Masterplan“ schrieb. Darin ist die Rede von einem gewissen Bekanntheitsgrad, von kommerziellem Erfolg, auf dass die Gruppe daraufhin beginnen könne, „sowohl die Musikindustrie als auch die Musik selbst zu unterwandern und umzuwandeln“; auch ein Comicheft aus einer Reihe namens „Countdown“ kramt Cocker aus dem Müllsack, mit rückwärts nummerierten Seiten. Oder den billigen Radiowecker mit besagter Primaballerina. Den zieht er auf, und es ertönt eine Glöckchenmelodie, zu der Cocker eine Spoken-Word-Performance über das Sheffield seiner frühen Jahre improvisiert.

Zu all diesen Dingen erzählt er weitere Geschichten. Und er erwähnt, wie der legendäre Radio-DJ und The-Fall-Fan John Peel sein Leben verändert hat. Oder was überhaupt einer der Gründe war, eine Band zu gründen: „Um endlich ein paar Freunde zu haben.“ Freunde hat er sich im Verlauf seiner Karriere überaus viele gemacht. So wie er dann noch an diesem Abend seine Bücher signiert, vor einer Mahlzeit sitzend, plaudernd, entspannt, da weiß man: Dieser Mann ist die Verkörperung des guten Pop; der böse Pop hat ihn wirklich nie in Versuchung geführt.

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