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Kultur: Jede Stimme zählt

Bitte recht saftig: Warum der Rundfunkchor Berlin weltweit Spitzennoten bekommt

Die Bühne ist bis auf den allerletzten Platz gefüllt. Im Sendesaal des RBB an der Masurenallee arbeitet der Dirigent Michael Gielen an Arnold Schönbergs expressionistischem Kurzdrama „Die glückliche Hand“. Eine viereinhalbstündige Mammutprobe ist angesetzt, bevor der Berliner Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester mit dem Programm auf Tournee nach Valencia, Zürich und Paris gehen. Der 77-jährige Michael Gielen ist gut drauf an diesem Vormittag, also streng und mürrisch, so wie man ihn kennt. „Gibt es irgendeinen objektiven Grund, warum Sie Ihren Einsatz verpasst haben?“, herrscht er einen der Hornisten an. Kaum sind ein paar Takte gespielt, bricht er ab, korrigiert hier die Lautstärke, will da den Rhythmus akzentuierter. Der Rundfunkchor, ganz oben auf den steilen Stufen des Sendesaals platziert, hat wenig zu tun in diesem Stück. Dennoch bleiben die Sängerinnen und Sänger die ganze Zeit aufmerksam auf ihren Stühlen sitzen – denn wenn der Dirigent plötzlich eine Chor-Passage proben will, muss sofort alles präzise klappen.

Seit fast 80 Jahren – im Mai steht der runde Geburtstag an – leistet sich das Berliner Funkhaus einen Berufs-Chor für das große symphonische Repertoire. Festangestellte Sängervereinigungen gibt es zwar bei den meisten deutschen Länder- Rundfunkanstalten, aber die 64-köpfige Formation aus der Hauptstadt ist unter ihnen die beste. Das sieht zumindest Simon Rattle so: Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker ist bekennender Fan des Rundfunkchores. Und das nicht nur, weil sein alter Freund und Namensvetter dort Simon Halsey künstlerischer Leiter ist. Während Rattles Vorgänger Claudio Abbado für seine Projekte regelmäßig spanische und schwedische Ensembles in die Philharmonie einfliegen ließ, schwört der britische chief conductor mittlerweile auf den Berliner Chor.

Dafür allerdings haben die Sängerinnen und Sänger hart geschuftet. Seit seinem Amtsantritt im April 2001 arbeitet Halsey daran, den Mischklang der 64 Stimmen im tiefen Register dunkler, „saftiger“ hinzubekommen, ohne dass die traditionell berühmte Reinheit der Tongebung darunter leidet. Dabei geht es um Details, die sich der normale Konzertbesucher kaum vorzustellen vermag. Zum Beispiel um die Vokale: „Alles, was mit Klangfarbe zu tun hat“, erklärt der Dirigent, „basiert auf der richtigen Artikulation des Textes.“ Also wird so lange am Text gefeilt, bis die A’s, E’s, I’s, O’s und U’s perfekt sitzen. Und dann geht es natürlich auch um Körpergefühl. In einer vom Optischen dominierten Gesellschaft zählt, wie sich die Sänger auf der Bühne präsentieren, ob sie locker dastehen, die Notenhefte nicht wie Schutzschilde vors Gesicht halten.

Halseys Ziel ist es, „einen ausdrucksvolleren Klang“ zu schaffen, „der noch mehr aus dem Körper kommt“. Darum wagen sich die Sänger auch an Gospels, wie zuletzt beim Weihnachtskonzert mit André Thomas, darum gibt es kein Zögern, wenn die Anfrage kommt, ob der Chor vielleicht auf der Japan-Tournee der Berliner Philharmoniker in der szenischen Aufführung von Beethovens „Fidelio“ mitwirken möchte. Wo kann man besser an seinem Körpergefühl arbeiten, als in Kostüm und Maske beim Auftritt auf der Opernbühne?

Nach der Tokioter „Fidelio“-Serie im November schrieb Rattle ins Gästebuch des Chores: „Well, well! Jetzt ist der Rundfunkchor also auch unsere Traumbesetzung in der Oper! Was kommt als nächstes – vielleicht mal ein Ballett?“ Wenn der wüsste! In der Tat plant Chordirektor Hans-Hermann Rehberg zur Feier des 80. Gründungstages ein Tanzprojekt, „Der versiegelte Engel“ von Rhodion Shchedrin. Ende Mai wird der Choreograf Lars Schiebner die Sänger in der Ruine der Parochialkirche in Mitte mit fünf Tänzern zusammenbringen. Rehberg, zu DDR-Zeiten selber Mitglied des beim (Ost-)Berliner Rundfunk beheimateten Chores und nach der Wende in die Rolle des Managers hineingewachsen, will seinem Ensemble neue Orte und Formen erschließen. Dafür schlägt er dann schon mal ein lukratives Angebot für einen konventionellen Konzertsaalauftritt aus. Rehberg will unbedingt neue Publikumsschichten erobern. Aus diesem Antrieb wurden vor drei Jahren auch die Mitsingkonzerte nach englischem Vorbild gestartet, bei denen Simon Halsey einen Tag lang mit Laien einen Klassiker der Chorliteratur probt und anschließend aufführt. 2004 erklang Mozarts „Requiem“ aus 630 Kehlen, für die „Carmina Burana“ am 24. April in der Philharmonie haben sich diesmal rekordverdächtige 1500 Mitwirkende angemeldet.

Wie zufrieden die Chormitglieder mit Simon Halsey sind, lässt sich daran ablesen, dass gerade sein Vertrag verlängert wurde. Fragt man den 56-jährigen Briten nach seinem künstlerischen Wunsch für die Zukunft, erscheint ein ziemlich freches Lächeln auf seinem jungenhaften Gesicht: „Ich will, dass die Leute sagen: Gestern habe ich den tollen Rundfunkchor mit den Berliner Philharmonikern gehört. Und nicht umgekehrt.“

Heute ist der Chor mit Michael Gielen zu erleben, am 26.2. unter der Leitung von Marek Janowski. Beide Abende finden im Konzerthaus statt, es spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester. Näheres unter: www.rundfunkchor-berlin.de

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