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Die Schriftstellerin Joan Didion 2005 in ihrer New Yorker Wohnung.

© dpa/Kathy Willens

Joan Didions „Notizen für John“: Das Spielen mit den Schuldkarten einer Alkoholikerin

Sorgen einer Mutter: In ihren „Notizen für John“ berichtet die 2021 verstorbene Joan Didion von ihren wöchentlichen Sitzungen bei einem Psychotherapeuten.

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Oft sind es Doppel-Botschaften, die Eltern von ihren Kindern zu hören bekommen: Lass mich bloß in Ruhe. Und: Kümmere dich gefälligst um mich. Auch Joan Didion und ihr Mann, der Schriftsteller John Gregory Dunne, haben diese Erfahrung gemacht. Sie haben Quintana 1966 adoptiert, als sie nur wenige Tage alt war.

Später wird die Tochter psychisch labil, leidet unter Depressionen, wird zur Alkoholikerin. Höchststrafe für die Eltern. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war häufig angespannt, Joan Didion lebte in ständiger Angst, ihre Tochter könne sich etwas antun. Quintana brauchte ihre Mutter – und stieß sie gleichzeitig zurück.

Vielschichtige Beziehungsdynamik zwischen Mutter und Tochter

Von dieser vielschichtigen Dynamik zwischen der Autorin und ihrer Tochter handelt das Buch „Notizen für John“. 2021 ist die amerikanische Bestsellerautorin gestorben, kurz nach ihrem Tod fand man einen Ordner mit rund 150 Seiten, eine Art intimes Tagebuch. Darin erzählt Didion von ihren wöchentlichen Besuchen bei einem Psychotherapeuten, Roger MacKinnon, vorwiegend aus dem Jahr 2000.

Bei ihm kann die sonst eher kontrollierte Autorin sich öffnen, über die Tochter und ihre Ängste sprechen. Die Berichte bekommen auch dadurch eine sehr persönliche Note, als Didion sie an ihren 2003 verstorbenen Mann John adressiert, mit dem sie fast 40 Jahre verheiratet war, er ist das „du“ in diesem Text. Ob die Autorin mit der Veröffentlichung ihrer Therapie-Protokolle einverstanden gewesen wäre? Wir wissen es nicht.

Selbstvorwürfe, weil sie so viel gearbeitet hat

Mutter und Tochter sind auf unselige Weise aneinander gekettet. Die Autorin hat das Gefühl, versagt zu haben, fühlt sich mitschuldig an Quintanas psychischen Krisen, ihrem mangelnden Selbstwertgefühl. Sie macht sich Vorwürfe, zu viel gearbeitet, zu wenig Zeit für die Tochter gehabt zu haben.

Andeutungen ihrer Tochter, es wäre besser, wenn es sie, Quintana, „gar nicht gäbe“ triggern ihre Ängste. Woraufhin sie der Tochter zu verstehen gibt, dass sie nicht weiterleben könne, wenn Quintana nicht mehr am Leben sei. Ihr Psychotherapeut nennt das „die Schuldkarte spielen“, mit der die Mutter wiederum die Tochter unter Druck setzt.

Joan Didion steht psychisch mit dem Rücken zur Wand, sie hat die Kontrolle verloren, kann den Alkoholismus der Tochter nicht ausschalten, so wie man einen Lichtschalter ausknipst. „Sie können sie nur lieben. Sie können sie nicht retten“, befindet ihr Psychologe unmissverständlich.

Auch Didions Mann John lebt in ständiger Sorge um die Tochter. Oft sprechen beide über ihre Arbeit, aber mittendrin „würde der eine oder die andere wieder anfangen, über Quintana zu reden“.

Der Psychologe rät zur Arbeit als Anker, als einen Versuch, Stabilität zurückzugewinnen. Würde die Mutter zusammenbrechen, würde das wiederum die Tochter noch mehr destabilisieren, in ihr Schuldgefühle auslösen, für das Leid der Mutter verantwortlich zu sein.

Mit Hilfe ihres hellsichtigen Therapeuten begreift Joan Didion, dass sie trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer vielen Arbeit als Mutter überfürsorglich gewesen war, ständig in Angst lebte, ihrem Kind könne etwas zustoßen. Woher diese übertriebenen Ängste?

Rückkehr in die eigene Kindheit

Hier geht die Autorin gemeinsam mit Roger MacKinnon in die eigene Kindheit: Ihr Vater war depressiv gewesen, hatte sogar eine Art Abschiedsbrief geschrieben. Die Sorge um ihn hat die Tochter belastet, dazu geführt, dass sie auch später immer wieder Katastrophen antizipiert hat.

Die Tochter starb im Alter von 39 Jahren

2003 heiratete Quintana, 2005 ist sie gestorben, im Alter von 39 Jahren, in Folge einer Bauchspeicheldrüsenentzündung. Diese Katastrophe hat die Autorin nicht antizipiert. Wenn man „Notizen für John“ liest, schwingt das Wissen um den Tod der Tochter immer mit, als dunkle Unterströmung. Didion hat das Leben und den Verlust der Tochter in ihrem Buch „Blaue Stunden“ (2012) eindringlich beschrieben.

Das neue Buch ist, ähnlich wie „Blaue Stunden“ oder „Das Jahr magischen Denkens“, sehr persönlich, aber noch mehr entkernt. Hier gibt es kaum allgemeine Reflexionen über den Umgang mit Krankheit, Trauer und die Grenzen der Vernunft, keine Zitate, mit denen Didion andere Autoren sprechen lässt. Sie schreibt über ihre Familie, ihre Mutterrolle, in jeder Zeile klar, analytisch, subtil, getrieben von dem Wunsch zu verstehen, zeigt sich aber auch verletzlich, erschüttert.

„Notizen für John“ ist keine eingängige Lektüre, man muss sich einlassen auf dieses ungewöhnliche Tage- und Therapiebuch, das vor allem in Dialogen und nicht selten sperrig und allzu detailliert daherkommt. Aber schließlich hat Didion es nicht für die Nachwelt geschrieben.

Alles in allem ist es jedoch ein wichtiges Buch darüber, was Eltern leisten können und nicht können, was Angehörige von Suchtkranken richtig und eben auch falsch machen können. In manchen Momenten muss man bei der Lektüre schlucken. Zum Beispiel, wenn die Tochter der Mutter vorwirft, einer ihrer typischen Sätze, die sie als Kind zu hören bekam, sei gewesen: „Putz dir die Zähne, kämm dir die Haare und sei still, ich muss arbeiten.“

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