
© The Metropolitan Museum of Art, / image Art Resource
John Singer Sargent im Pariser Musée d’Orsay: Was ein herabgerutschter Träger anrichten kann
Ein Jahrzehnt war er ein Darling der Pariser Society, bis er einen Faux pas malte. Erst jetzt, 150 Jahre später, erinnert sich die Stadt wieder an ihren einstigen Künstlerstar.
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Vielleicht hat man ihm das berühmte Gemälde der „Madame X“ mit dem herabgerutschten Träger nie ganz verziehen. Oder vielmehr das säuerliche Bild, das die ansonsten lebenslustige Pariser High Society damals von sich selbst abgab, als sie das Porträt der Amerikanerin im tief dekolletierten Abendkleid skandalisierte. Knapp 150 Jahre ist es her, dass John Singer Sargent (1856–1924) das Werk im Pariser Salon präsentierte und damit zum Aufreger der Saison machte.
Von den heftigen Reaktionen überrascht, retuschierte er reumütig das lebensgroße Porträt der verführerischen Gattin eines reichen Reeders und rückte ihren mit Strass besetzten Träger wieder ordentlich zurecht. Dazu anonymisierte er den im Titel genannten Namen, um das 25-jährige Modell vor übler Nachrede zu schützen.
Bis heute dauerte es jedenfalls, ein Jahrhundert nach seinem Tod in London, dass Frankreich den amerikanischen Maler mit einer Einzelausstellung ehrt, der in Großbritannien und den Vereinigten Staaten längst zu den populärsten Künstlern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehört. Dabei begann seine Karriere in Frankreich, genauer: in Paris. Dort war er für ein Jahrzehnt als Porträtist Darling der Reichen und Schönen und malte die Nouveaux Riches aus den USA wie die Vertreter des alteingesessenen Adels.
In Paris startete der junge Singer Sargent durch
Der in Florenz geborene Sohn reiselustiger Amerikaner zeigte früh künstlerisches Talent, sodass seine Eltern ihn in der französischen Hauptstadt professionell ausbilden lassen wollten. Denn hier erteilte der gefragte Maler Carolus-Durans in seinem Atelier Privatunterricht, hier gab es die staatliche École des Beaux-Arts, die Singer Sargent sofort aufnahm. Der 18-Jährige verblüffte mit seinen aus Rom mitgebrachten Zeichnungen italienischer Antiken, den schmeichelnden Schattenwürfen und gekonnten Perspektiven, und durfte als Schüler bleiben.
Die frühen Zeichnungen hängen zu Beginn der neunzig Werke umfassenden Schau im Musée d‘Orsay, die um Singer Sargents Pariser Produktion kreist. Viele Bilder kehren zum ersten Mal wieder zurück nach Frankreich. Heute wird der Künstler vor allem als Chronist der Belle Epoque geschätzt, der noch einmal alle Malkunst aufbietet, um mit schwelgerischen Farben und einer frappierenden Präsenz die konkurrierende Fotografie in ihre Schranken zu weisen. Das Altmeisterliche gelangt bei ihm zu einer letzten Blüte.

© 2025 Museum of Fine Arts, Boston
Die neuesten Entwicklungen, Neo-Impressionismus, Pointillismus, interessierten den jungen Maler nicht. Nur ein einziges Bild zeigt ein klassisches Großstadtmotiv jener Zeit: Spaziergänger im Jardin du Luxembourg, die bei seinen Zeitgenossen sehr viel mehr en vogue waren. Singer Sargent scherte sich nicht darum und ließ sich zu Freiluftbildern lieber auf seinen vielen Reisen inspirieren, die er von Paris aus antrat.
Aus der Bretagne und Venedig, vor allem den Ländern des Mittelmeers, brachte er zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle mit, die er zu exotischen Szenen amalgamierte. Zum Star-Bild avancierte „Smoke of Ambergris“ mit einer jungen marokkanischen Berberin in Tunika, die in der Abgeschiedenheit eines Innenhofes ein weites Leinentuch über sich und das am Boden stehende Rauchgefäß hält, um die aufsteigenden Dämpfe zu inhalieren.

© Foto: Los Angeles, Hammer Museum, Collection Armand Hammer, © courtesy of the Hammer Museum
Geschickt kombinierte er bei den jährlichen Salons im Palais de l’Industrie, wo sich die Künstler für Kritiker und künftige Auftraggeber positionierten, jeweils ein Reisebild mit einem aufsehenserregenden Porträt. Für Gesprächsstoff hätte gewiss auch sein Bildnis „Dr. Pozzi at home“ (1881) gesorgt.
Es zeigt den international berühmten Gynäkologen, der nebenher bekannt für seine zahlreichen Liebesaffären war, in einem tiefroten Morgenmantel. Singer Sargent präsentierte das lebensgroße Werk zu seinen Lebzeiten allerdings nur in London und Brüssel. Heute befindet es sich im Hammer Museum in Los Angeles und löst immer noch Fragen aus, bis zu Julian Barnes’ Buch über den rätselhaften Dr. Pozzi. Nun ist es ebenfalls wieder am Ort seiner Entstehung zu sehen.
Auch wenn die opulenten Bildnisse schon damals aus der Zeit gefallen wirkten, weil sie in der Tradition der Porträtkunst eines Tizian oder van Dyck standen, üben sie noch heute eine große Anziehungskraft aus. „Die Töchter von Edward Darley Boit“ (1882) etwa, vier Mädchen zwischen vier und 14 Jahren im großen Flur der elterlichen Wohnung mit pompösen Vasen, spielen auf Velázquez‘ „Las Meninas“ an. Wie sie verloren im Raum mit ihren weißen Schürzen stehen und den Betrachter aus großen Augen anschauen, möchte man sofort ihr weiteres Schicksal ergründen.
Nach dem Eklat um „Madame X“ zog sich Singer Sargent nicht sogleich aus Frankreich zurück; erst 1886 verlegte er seinen Wohnsitz endgültig nach London. Auch die Porträtierte wurde nicht zum Paria der Hautevolée. Selbst nach seinem Umzug hielt der Maler weiterhin Verbindung mit den Freunden in Frankreich und gehörte zu den Unterstützern für den Ankauf von Edouard Manets „Olympia“, einem anderen Skandalbild. Heute hängt es im Musée d’Orsay als eines der Highlights der Sammlung.
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