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Der Autor Jonathan Robijn, geboren 1970 in Gent.

© Irwan Droog

Jonathan Robijns Roman "Kongo Blues": Afrikanische Kindheiten

Verschwommenes Unglück: Jonathan Robijn erzählt in dem Roman „Kongo Blues“ vom langen Schatten der belgischen Kolonialzeit.

Ein Januarmorgen in Brüssel. Der Pianist Morgan entdeckt in der Nähe seiner Wohnung eine junge Frau in einem elegantem Mantel und kurzem Kleid. Sie sitzt vor Smolders’ Fahrradwerkstatt im Schnee, den Kopf auf die Arme gelegt, und scheint zu schlafen. Morgan nimmt sie mit in seine kleine Wohnung, damit sie sich aufwärmen kann. Sie heißt Simona. Ob sie vielleicht bei ihm übernachten kann, „nur ein, zwei Tage“? Sie bleibt mehrere Wochen. Dann verschwindet sie wieder. Und es wird kompliziert.

Jonathan Robijns Roman „Kongo Blues“ beginnt als melancholisches Rätselspiel. Morgan spielt nachts in den Bars von Brüssel Chet Baker und Thelonious Monk, tagsüber liest er in einer Billie-Holiday-Biografie, ansonsten hängt er einer vergangenen Liebe nach. Simona fügt sich wie selbstverständlich in die Routine seines Alltags. Beide werden kein Liebespaar („ganz schlechte Idee“, sagt sie), eigentlich nicht einmal Freunde. Stattdessen leben sie still nebeneinander her zwischen Morgans Schallplatten, den Secondhand-Möbeln und seinem Klavier.

Simona – mehr erfährt man vorerst nicht – trägt auffällig große Summen Bargeld mit sich herum und wartet auf einen Termin im Außenministerium, um eine geschäftliche Angelegenheit für ihren Vater regeln. Dass es eine Verbindung zwischen ihr und Morgan gibt, die in der kolonialen Vergangenheit Belgiens liegt, deutet sich erst an, als sie ihn in ein Restaurant am Fischmarkt einlädt und die Kellnerin ihr Befremden über seine Hautfarbe nicht verbergen kann: „Offensichtlich hatte dieses Lokal nur selten schwarze Gäste.“

Belgien führt seit Jahren eine postkoloniale Debatte, angestoßen unter anderem durch David van Reybroucks aufrüttelnden Sachbuch-Bestseller „Kongo“ und seinem schonungslosen Blick auf Zwangsarbeit, Gewalt und Missbrauch. Jonathan Robijn, der 1970 geboren wurde, erzählt seinen schmalen Roman nun nicht von heute aus, sondern siedelt ihn in einer Zwischenzeit an: 1988. Knapp dreißig Jahre nach dem Ende des „Freistaat Kongo“ ist es in Belgien keine Selbstverständlichkeit, dass ein schwarzer Mann und eine weiße Frau gemeinsam ein Lokal betreten. Noch lastet der dunkle Schatten der Kolonialzeit schwer auf Gesellschaft und einzelnen Biografien: Simona ist das Kind eines Ingenieurs, der nach der Unabhängigkeit des Kongo in Zaire am Ausbau des Eisenbahnnetzes beteiligt war, „von Kinshasa zu den Diamantenminen, von Kolwezi nach Matadi, von Kisangani nach Lubumbashi“ – und dabei reich geworden ist. Morgan dagegen ist als Kind unter dem Namen „Roman“ von einem belgischen Ehepaar aufgenommen worden. Seine Erinnerungsbilder sind blass und verschwommen, seine Herkunft liegt völlig im Dunkel: „Ich weiß mit Sicherheit nur, dass ein Flugzeug im Spiel war.“ Später bricht er mit den Adoptiveltern und legt sich mit dem amerikanisch klingenden „Morgan“ einen Künstlernamen zu: Eine biografische Leerstelle ersetzt die andere.

Reminiszenzen an Patrick Modiano

Seit er Simona getroffen hat, weht ein Hauch von Déjà-vu durch Morgans Leben: Als sie ihm ihren Bruder Walter vorstellt, hat er das Gefühl, ihn „schon einmal getroffen zu haben“, und der Tonfall der Geschwister „erinnert ihn an eine Melodie, die irgendwo in der Tiefe seiner Erinnerung gespeichert war“.

Dieser zarte Satz könnte auch in einem Roman von Patrick Modiano stehen, und tatsächlich gibt es bei Robijn ein, zwei schöne Reminiszenzen an den französischen Literaturnobelpreisträger. Zum Beispiel wenn Morgan ein Theater aufsucht, in dem seine Stiefmutter vor vielen Jahren als Schauspielerin aufgetreten ist, könnte das auch eine der wiederkehrenden Szenen in Modianos Werk sein, in denen der Erzähler sich an Kindheitsbesuche in der Theatergarderobe seiner Mutter erinnert. „Kongo Blues“ – der Verlag hat „Kriminalroman“ auf den Umschlag drucken lassen – ist allerdings deutlich ökonomischer erzählt als Modianos somnambule Autofiktion. Morgans scheinbar zufällige Bekanntschaft mit Simona führt zu einer Reihe weiterer Begegnungen: Er trifft noch einmal auf seine mittlerweile demente Adoptivmutter; er lernt die Witwe eines ehemals einflussreichen Politikers kennen, die nicht über die Vergangenheit sprechen will und doch nur von ihren Erinnerungen lebt. Und er trifft einen flämischen Provinzbürgermeister, der sich nach den Zeiten sehnt, in denen für einen belgischen Verwaltungsangestellten in Afrika mit Blick auf die Frauen in den Dörfern „keine Regeln“ galten: „Im Kongo war alles möglich.“

Nach und nach sammelt Morgan so Hinweise auf eine Tragödie, die größer ist als er selbst. Der Pianist ist eines der vielen ungewünschten, außerehelichen Kinder aus dem Freistaat Kongo, die eine schwarze Mutter und einen weißen Vater hatten und „après l’indépendance“ in Belgien zur Adoption freigegeben wurden. Die betörende Melancholie, die am Anfang über Robijns Roman lag, verwandelt sich allmählich in leise Paranoia: Die Andeutungen auf die Rolle, die Simona Walter in diesem Drama spielen, sind so beunruhigend wie naheliegend. Es ist fast eine Erleichterung, als die Polizei nach Simonas Verschwinden an Morgans Tür klopft und plötzlich ein internationaler Haftbefehl und ein konkretes Verbrechen im Raum stehen. Am Ende ist es die Konvention des Kriminalromans, die das verschwommene Unglück in „Kongo Blues“ erträglich macht.

Jonathan Robijn: Kongo Blues. Aus dem Niederländischen von Jan-Frederik Bandel. Nautilus, Hamburg 2019. 176 Seiten, 18 €.

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