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Kultur: Kerzen für Djindjic

Serbien huldigt dem Totenkult. Auch nach dem Mord am Regierungschef entspricht das Ritual des Wehklagens der Kunst des Wegschauens/Von Bora Cosic

Es gibt eine Fernsehsendung in Berlin, in der man in unserer Muttersprache über die Ereignisse in unserem ehemaligen Land zu berichten versucht. Die Szenerie, in der sich das abspielt, ist immer eine Kneipe, und die Geräuschkulisse dieser kurzen Sendungen besteht aus miserabler Musik, die aus einer serbischen Provinzkaschemme stammen könnte. Ein paar Popen machen Reklame für Jesus Christus, später trinken alle sehr viel Schnaps und Wein, und eine magere, hässliche VorstadtSängerin setzt das Geheul ihrer orientalischen Arien fort. Mir scheint, dass dieses Bild mit Absicht konstruiert wurde: Das Leben im heutigen Serbien soll mit Hilfe einer Kneipendramaturgie erklärt werden. Gleichzeitig geschehen in diesem Land ununterbrochen schreckliche Dinge. Ein dauerhaftes Unglück hat sich über Serbien zusammengebraut, ein Unglück, dem die Fernsehereignisse aus der Berliner Kneipe nicht gewachsen sind. Als hätte eine höhere Macht beschlossen, dieses Volk zu vernichten. Doch wir wissen, dass das nicht stimmt.

Das serbische Volk ist nicht besonders religiös, aber wenn es sich nach einem Gott streckt, dann mehr nach einem lokalen heidnischen Waldgeist. So jedenfalls sieht die neue Frömmelei nach dem Fall des Kommunismus aus, dieses Sich-Bekreuzigen an jedem Ort. Ich nehme ihnen diese Frömmigkeit nicht ab, auch nicht den neuen Kult um Beerdigungen, Sechs-Wochen-Ämter und überhaupt: ihre Toten. Freilich betreiben sie ihn nicht mit so viel distanziertem Humor wie in Mexiko. Bei uns erklingt zunächst von den kleinen Dorffriedhöfen und den großen Ehrenalleen viel Gejammer, wobei sich die Trauernden auf den Boden werfen und auf die Brust schlagen. Hier ist man dem Nahen und Fernen Osten sehr nah; in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in Rumänien beispielsweise, stürzen sich ganze Kompanien von Frauen vor den Bildern der Toten auf die Knie. Und ihr Wehklagen ist bis in den Himmel zu hören. Einen Kerzenkult kann man auch auf den Straßen Belgrads beobachten – in den letzten fünfzehn Jahren sogar als eines der häufigsten Ereignisse der Massenkultur. Der Kerzenkult hat die Manie der Paraden, Großkundgebungen und Schwätzereien herab von Balkonen ersetzt; ständig zündet das Volk Kerzen an für einzelne Gewaltopfer oder auch die Toten eines kollektiven Unglücks.

Auch ganze Institutionen, die in den Jahren der Diktatur die Oppositionellen versammelten und solche, die zum Widerstand bereit waren, beschäftigen sich jetzt häufig mit Memorieren und Gedenken – eine Friedhofsaktivität auf höherer Ebene. Statt der trauernden Weiber ergreifen hier in pathetischer Tonlage Kämpfer des intellektuellen Widerstandes das Wort, als stünden sie ununterbrochen auf dem Friedhof. So wurde das Schicksal des Todes in Serbien theatralisiert.

In diesen Tagen schickt sich jeder Serbe an, seine kleinere oder größere Kerze an jener Stelle zu entzünden, an der der Präsident seiner Regierung ermordet wurde. Ich glaube, dass der Lärm um den Tod eines einzelnen Menschen, der in der Öffentlichkeit stand, ein schlechter, fast perverser Anlass ist, sich über diesen zu äußern. Ich erweise diesem jungen Mann, der im Land der Gesetzlosigkeit ermordet wurde, lieber die Ehre, indem ich meine Aufmerksamkeit auf das Land und das serbische Volk lenke.

Viele von denen, die heute in Scharen zum gemeinsamen Friedhof des serbischen Schicksals eilen, haben aber noch vor kurzem ihre Stimme bei den Wahlen jenem Verbrecher gegeben, mit dessen Erscheinen auf unserer Schaubühne der allgemeine Verfall und die Vernichtung menschlichen Lebens begonnen hat. Das ist mein Thema, diese Art, sich um einen Sarg zu versammeln, in dem nicht nur der Körper jenes realen Politikers liegt, sondern auch ein Teil der irrsinnigen Ideen dieser Menschen selbst. In jenem Ritual, das diese Beerdigung begleitet, verbergen sich Chaos und Unvernunft: Es ist unbegreiflich, dass 24 Stunden nach dem Verbrechen nahezu 100 verdächtigte Personen verhaftet werden können, dass man das aber nicht vorher tun konnte. Seit Jahren sterben Menschen im Kugelhagel, am Restauranttisch oder beim Verlassen eines Autos, die ehemaligen Führer dieses Volkes werden entführt, so wie Aldo Moro, es blühen Kriminalität, Gesetzlosigkeit, Korruption und jede Art von Elend, und dann – plötzlich – beschließt dieselbe Polizeiführung alles über Nacht in Ordnung zu bringen, und der Rest des Volkes zündet Kerzen an. Worauf haben diese Leute bis heute gewartet, warum haben sie – anstatt Kerzen anzuzünden – nicht Nein zu diesen Verbrechern gesagt, als sie ihre Kinder zum Abschlachten der Kinder der anderen geschickt haben, unserer einstigen Mitbürger, Verwandten und Brüder?

Vielleicht überlebt die gesamte Menschheit ja, indem sie Ereignisse, deren Zeugin sie ist, scheinbar nicht bemerkt und den Blick abwendet, manchmal sogar vom eigenen Schicksal. Das gilt vor allem für die Völker des Südens, zu denen ich gehöre. Ihr Schicksal ist zum Teil deshalb so bitter, weil sie in einem sehr gefährlichen Moment den Blick abwandten und den Verbrechern und Mördern erlaubten, das Ihre zu tun. Wie jene polnischen Bauern, die ihre Äcker neben dem Zaun pflügten, der sie vom Konzentrationslager Auschwitz trennte. Alte Damen mit Hüten haben in Belgrad die Panzer mit Blumen verabschiedet, die später Vukovar zerstörten – sie haben nicht einmal weggeschaut.

Ich komme gegen dieses Wegschauen von Millionen Mitbürgern nicht mehr an, indem ich ununterbrochen versuche, ihren Blick auf den Ort des Geschehens zurück zu richten. Nein, die Nekrophilie ist stärker.

Der serbische Schriftsteller Bora Cosic lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Die Zollerklärung“ (Suhrkamp 2001). – Aus dem Serbischen von Alida Bremer.

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