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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Cannes-Bilanz: Die Leere des Lärms

Viel Krach um die Filme und allerlei Krach auf der Leinwand: Damit machte der 63. Jahrgang von Cannes von sich reden. Das Herz des Festivals aber waren die stillen Filme. In seinem Festivaltagebuch jan@cannes zieht unser Filmkritiker Jan Schulz-Ojala Bilanz.

So viel Schlachtenlärm um Cannes dieses Jahr, Wochen vorher, mittendrin und am Ende nochmal. Schon zur Pressekonferenz Mitte April wurde nur ein Rumpfprogramm mit 16 Wettbewerbsfilmen – Minusrekord für große Festivals – vorgestellt und bis zum Start peu à peu auf magere 19 erweitert: Da muss das Programm, hieß es, wohl wenig taugen. Dann meldeten die Organisatoren mit dem Komponisten Alexandre Desplat mal eben noch ein Jury-Mitglied nach: Ja, sind sie denn, hieß es allerseits, ganz durch den Wind da in Cannes? Und schließlich lief der arg durchschnittliche Eröffnungsfilm, das Pfeil-und-Bogen-Epos „Robin Hood“, frankreichweit schon nachmittags im Kino, also vor der abendlichen Gala an der Croisette: Da ging der Welturaufführungsmythos des weltgrößten Filmfestivals endgültig baden.

Und erst das Getöse zum Finale! Proteste über Proteste waren zur – immerhin echten - Weltpremiere von Rachid Boucharebs „Hors la loi“ über den Algerienkrieg angekündigt. Und dann entpuppt sich die Demo am Kriegerdenkmal gegenüber dem Hafen als eher schlapper Termin mit Kranzniederlegungscharakter. Zum Ausgleich aber scheppert es im letzten Wettbewerbsfilm gleich wieder gewaltig. Zweieinhalb Stunden dauert Nikita Michalkows Weltkrieg-II-Monumentalschinken „Exodus – Die Sonne, die uns täuscht 2“, und zum Abspann heißt es: „Ende des ersten Teils“. Wie jetzt, nächstes Jahr nochmal dieselbe Dosis?

In Russland hat der mit rund 30 Millionen Euro teuerste russische Film aller Zeiten, so meldet die Website imdb.com, nach zwei Kinowochen bereits sein Pulver verschossen und nicht einmal ein Sechstel seiner Produktionskosten eingespielt. Da dürfte es, Cannes hin oder her, im Rest der Welt umso schwerer werden. Das große Schlachtengemälde des Putin-Freundes Michalkow funktioniert zwar nicht als die allgemein befürchtete nachgetragene Stalin-Propagandaschleuder; im Gegenteil, der Apparat um den dämonisch gemütlichen Stalin ist um keinen Deut besser als die mörderischen Deutschen. Dafür schlagen die Glocken umso heftiger für das Christentum, so postideologisch wie plakativreligiös. Wenn nicht gerade Landserhumor und Landserromantik vom Typ „Krankenschwester zeigt sterbendem Soldaten ihre nackten Brüste“ dröhnend den Ton angeben.

Doch bei allem Krach und Krieg auf der Leinwand und drumherum: Wenn sich der Rauch verzogen hat, sind es die stillen Filme, die von diesem Festival bleiben. Nicht dass die Umgebung, gegen deren Mechanismen sie auf Menschlichkeit und Wärme beharren, nicht oft auch grausam wäre: Aber es macht die Größe ihrer Regisseure aus, dass sie es nicht nötig haben, Brutalität grob ins Bild zu setzen. Vom schrecklichen Tod der sieben Mönche in Xavier Beauvois' „Des hommes et des dieux“ künden nur ein gemeinsamer Weg in den Nebel und ein paar Zeilen im Abspann. Auch der Koreaner Lee Chang-dong muss in „Poetry“ die Vergewaltigungsmartyrien einer jungen Selbstmörderin nicht zeigen: Es genügt ein bei der Trauerfeier entwendetes Foto, das eines Tages auf dem Mittagstisch eines der Mittäter steht.

Überdeutlichkeit gegen Andeutung, äußere Dramatik gegen inneres Drama, laut gegen leise: Hier verlaufen die Fronten dieses Festivaljahrgangs, und die Leisen setzten sich auf ihre Weise durch. Xavier Beauvois' kristallklares Plädoyer für den Frieden – auch in Lebensgefahr! - zwischen Christentum und Islam; Lee Chang-dongs zarte Liebeserklärung an die Würde einer lebenslang dienenden Mittsechzigerin, die dem Rest ihrer Tage bescheiden ein paar Augenblicke der Poesie abverlangt; und Mike Leighs wunderbares Ensemblestück „Another Year“, in dem ein altes Ehepaar zum Seelenanker seiner Freunde wird: Vor allem diese drei Filme sind es, die sich am Sonntagabend für höchste Palmen-Ehren der von Tim Burton geführten Jury empfehlen.

Dennoch: So fantastisch genau diese zurückhaltenden Filme ihren Gegenstand in den Blick nehmen, so fern siedeln sie von jener Lust zum Risiko, die das Kino insgesamt voranbringt. Diesem Cannes-Jahrgang fehlten jene Kracher, die nicht nur Skandal machen, sondern ästhetisch überzeugen oder auch spalten – wie im vergangenen Jahr Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“, Jacques Audiards „Ein Prophet“ oder auch Lars von Triers „Antichrist“, der zur radikalen Positionierung herausfordert. Es fehlten die cineastische Donnerschläge, nach denen die Festivalgemeinde – ihr schönster Sport - im leidenschaftlichen Schwärmen und Streiten die Instrumente eigenen Urteilens überprüft. Mit anderen Worten: Es fehlte das Salz.

Sicher ist es angesichts eines nur mittleren Cannes-Jahrgangs verfrüht, nun gleich die Krise dieses Festivals oder der Festivals überhaupt auszurufen. Filme werden nach wie vor in Massen für die – auch kleineren - Massen gedreht und verkauft, und Cannes zieht wie jedes Jahr die Massen der Zuschauer und Händler an. Die Prominenzmaschinerie funktioniert, die Stufen zum Festivalpalast dienen Abend für Abend geschmeidig als Catwalk jedweder Eitelkeiten, und sogar Alt-Stars wie Mick Jagger oder Grace Jones nutzen Rummel und Rampenlicht. Wenn aber die ganz großen Filme sich rar machen, wird die Leere des Lärms offenkundig. Der Sturm braucht ein Auge, mit dem man in die Seele des Kinos sieht.

Was also wird das Jahr noch bringen? Nach einer schwachen Berlinale und einem ordentlichen Cannes richten sich die Hoffnungen ganz auf Venedig, das im Trio der drei Großen jahrelang abgeschlagen schien. Dort könnten Terrence Malick und Sofia Coppola, die 2003 mit „Lost in Translation“ Venedig verzauberte, die Sehnsucht nach dem auch künstlerisch großen amerikanischen Film stillen, die in Cannes so eklatant unbefriedigt blieb. Mit Abdel Kechiche und Francois Ozon sind zudem zwei prominente Franzosen wohl bereits gebucht – und auch Deutschland könnte im Wettbewerb, nach der No-Show in Cannes, von sich reden machen. Vor zehn Jahren lief dort Tom Tykwers letzter deutschsprachiger Film „Der Krieger und die Kaiserin“. Einiges deutet darauf hin, dass er mit seiner Berliner Beziehungsgeschichte „Drei“ nach Venedig zurückkehrt. Nur dessen Jury-Präsidenten hatte Cannes vor sechs Jahren schon: Quentin Tarantino.

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