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35Rum
© realfictionfilme

35 Rum: Nicht ohne meinen Vater

Pariser Begegnung, Berliner Premiere: Die französische Regisseurin Claire Denis und ihr Traumfilm "35 Rum".

Unbrauchbar eigentlich, das Gespräch vor ein paar Wochen in Paris, Interviewmarathon im Grand Hotel de l''Opéra, eine Viertelstunde nur ist gewährt, da kannst du eigentlich gleich wieder gehen. Und auch Hauptdarsteller Alex Descas sitzt dabei, muss aber eigentlich gleich zum Zug, nur wo ist das Ticket, aufgeregtes Zwischendurchtelefonat, hat nicht Grégory das Ticket, fragt Claire, Grégory müsste doch eigentlich das Ticket haben? Und gleich kommen auch noch zwei Fernsehteams, ob Claire sich nicht schnell die Frisur in Ordnung bringen lassen will?

Eigentlich. Oder auch nicht. Der derangierte blonde Wuschelkopf dieser großen Haarverwühlerin ist schon okay. Und auch sonst kann man doch einfach anfangen zu reden, schließlich ist Claire Denis eine Interviewer- und Publikumsverzauberin mit wunderbar unruhiger Gebärde vom ersten Luftstreicheln an. Nur den Fragenkatalog, den lass jetzt weg. Mach was aus der Zeit, die ihr nicht habt, Zeit spielt jetzt und überhaupt und sowieso keine Rolle.

Also: sich zurückträumen in das gewesene Leben zum Beispiel. „35 Rum“ speist sich fern aus Spuren Afrikas, und auch Claire Denis, die in Kamerun, Burkina Faso und Dschibuti aufgewachsen ist, Tochter eines Kolonialbeamten, ist eine Herzensafrikanerin geblieben, eine Traumtropenreisende für immer. Ihre Filme, seit ihrem Debüt „Chocolat“ vor 21 Jahren, spielen mit der, wie sie sagt, Proust’schen Sehnsucht, sich in der wiedererfundenen Kindheit wiederzufinden, und auch heute noch genießt sie dieses Aroma ihrer Madeleine, bei afrikanischem Essen etwa – ohne Schnecken etwa und „stinkenden Camembert“, all dieses Zeug, das sie nicht kannte, bis sie mit 14 nach Frankreich kam. Ach, Afrika! Trotz aller Horrornachrichten, meint sie, ist dieser Kontinent innerlich freier, fröhlicher als die Antillen mit ihren nachblutenden Wunden der Sklaverei – und eifrig bestätigt das der dabeisitzende Alex, der selber als Kind von Martinique ins Mutterland kam. Und, nun wieder Claire, hat nicht auch Barack Obama wegen seines kenianischen Vaters mehr Kraft als alle geschichtsgewichtsbelasteten Afroamerikaner zusammen? Und Gong. Und Stoptaste. Der Nächste bitte.

Am Anfang sind die Gleise. Der Blick eines Pariser Vorortzug-Lokführers auf seine Alltagswelt, dann der Blick auf die Züge selber, die Kamera folgt ihnen sachte, und dazu erklingt schwermütig schleppend eine Melodica. Erstes Signal: Du Zuschauer hast Zeit. Lionel (Alex Descas) ist einer dieser Lokführer, die ihr Tagein-Tagaus-Leben führen, und er wohnt mit seiner jungerwachsenen Tochter zusammen, der schönen Joséphine (Mati Diop), die er nach dem Tod ihrer deutschen Mutter alleine aufgezogen hat – obwohl, da ist Nachbarin Gabrielle (Nicole Dogue), die Lionel liebte und liebt und Joséphine zeitweise eine Art Mutter war. Und da ist in dem Hochhaus in der Banlieue, wo Lionel, Joséphine und Gabrielle wohnen, der junge Noé (Grégoire Colin): Könnte sein, dass das irgendwann noch was wird zwischen ihm und Joséphine.

Das ist die ganze Geschichte. Oder: fast. Erzählt wird sie eher in Blicken und Gesten als in Dialogen, und einmal, in einer großartigen Nachtszene, die Protagonisten flüchten sich nach Autopanne und Wolkenbruch in eine Bar, erzählt sie sich zauberisch in drei Tänzen weiter, nein, es sind vier. Es ist die Geschichte jenes schmerzhaften Abschiednehmens, das Eltern und ihre großen Kinder noch einmal aneinanderschmiedet: Man muss sich trennen, weil es Zeit wird, und doch hört die Liebe, wenn man Glück hat, nie auf. Also wird Lionel, zur traurigschönen Feier eines Tages, Joséphine zärtlich die Halskette ihrer Mutter anlegen und später exakt 35 Schnapsgläser leeren, altes kreolisches oder auch kamerunisches Ritual.

Von Auslassungen lebt „35 Rum“, von Andeutungen, von allem also, was bessere Filme ausmacht. Er macht sich schmal in engen Wohnungen und Taxis und Bars und feiert dafür immer wieder überliebensgroß seine so ungemein strahlenden Gesichter. Und in aller Melancholie ist eine Freude, so leise hast du sie schon lange nicht mehr im Kino gesehen.

Ein paar Wochen später ist Claire Denis in Berlin, die große Unbekannte unter den französischen Regisseuren: Zum ersten Mal seit zehn Jahren kommt einer ihrer neuen Filme auch in Deutschland ins Kino, die letzten drei ließ man hier aus. Und nach der Vorstellung steht die 60-jährige Engelsgesichtige in Ewigmädchenklamotten auf der Babylon-Bühne, und Franz Müller von der Filmzeitschrift „Revolver“ holt mit präzisen, engführenden, auch technischen Fragen das anderweitige Interviewversäumnis nach.

Man spricht, zum Beispiel, von den drei Inspirationsquellen zu „35 Rum“. Vom japanischen Regiemeister Yasujiro Ozu, seinem unvergleichlichen Sinn für die kleinen Alltagsmomente und seiner Vater-Tochter-Geschichte „Später Frühling“ (1949). Von Metrofahrern, ihrem „introspektivsten Job der Welt“ und dem Radiointerview mit einem von ihnen, dessen Aufzeichnung Claire Denis bei jedem Hören „99-prozentig“ zum Weinen bringt. Und von ihrer eigenen Mutter, die als Einzelkind vom Vater allein aufgezogen worden war, ja, so sehr schwärmte sie davon, dass „wir Kinder sogar ein bisschen neidisch waren“.

Vor allem aber spricht man Englisch. Und wie Claire Denis dann „My mother is a very melancholic woman“ sagt, mit ihrer fein modulierenden Stimme und dem zartesten anglofranzösischen Akzent der Welt: Schon deshalb lohnt es, an einem spätwinterlich verregneten Berliner Abend von A nach B zu fahren.

fsk und Hackesche Höfe (jeweils OmU)

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