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Das Spazieren kam erst mit der Motorisierung in Mode. Gustave Caillebottes „Chemin montant“ entstand 1881.

© Heritage Images / Fine Art Image

Kleine Kulturgeschichte des Gehens: Warum der Mensch Bewegung braucht

Spaziergänge sind ja noch möglich in diesen Tagen, kurze Strecken, besser als nichts. Über das Gehen, nicht nur in Zeiten von Corona.

Das Bein gestreckt, das Knie gebeugt, auf geht’s. Abfedern, das Körpergewicht verlagern, flugs die Ferse aufsetzen, Fußballen abrollen, Rücken leicht verdrehen, der Arm schlenkert in die entgegengesetzte Richtung. Und eins, und zwei… und vor, zurück, nein weiter vor. Der Mensch, wenn er geht, betätigt 700 Muskeln und 100 Gelenke. Schon Neugeborene verfügen über den Schreitreflex. Mensch-Sein, das ist der aufrechte Gang.

Man geht ja jetzt wieder mehr. Wer es sich leisten kann, meidet die öffentlichen Verkehrsmittel, viele haben kein Auto, und nicht alle nehmen das Rad. Das Gehen ist erwünscht – zu gesundheitlichen Zwecken. Spaziergänge, Besorgungen, Sport: Laufen, joggen, Walken, Schlendern, alles erlaubt, nur tagelange Wanderungen oder Bergbesteigungen sind jetzt tabu. Das Virus rast um die Welt, während sich unsere Mobilität auf die eigene Körperkraft konzentriert, den Zweibein-Motor. Der öffentliche Raum ist auf Laufweite zusammengeschrumpft.

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Wir Homeofficer, Face-Time-Plauderer, Livestream-Junkies und Krisenabschnitts-Arbeitslosen kriegen zuhause schnell kalte Füße. Also geht, wer darf, kurz mal raus, Kopf lüften, Einatmen, Ausatmen, schon kommt man auf andere Gedanken – und sie schweifen schnell ab. Gehen ist Bewegung, Rhythmus, Meditation. Gucken und Staunen, Kino im Kopf.

Jeder für sich: Spaziergänger im Münchner Olympiapark.
Jeder für sich: Spaziergänger im Münchner Olympiapark.

© Ursula Düren/dpa

Die Geschichte des Gehens, schreibt die amerikanische Essayistin und Aktivistin Rebecca Solnit in ihrem wunderbar weitläufigen Buch „Wanderlust“, ist eine Laiengeschichte. Tausende von Jahren sind die Menschen ausschließlich gegangen, die Arbeiter, die Händler, die Pilger, die Läuferboten, die Handwerksburschen auf der Walz. Ganze Völkerwanderungen fanden statt. Für den Transport wurden höchstens noch Vierbeiner eingespannt.

Wir Menschen sind 84 Prozent der Gehzeit Einbeiner, weiß Johann-Peter König in seinem ebenfalls ausschweifenden Band „Zu Fuß“ zu berichten. Rebecca Solnit stellt fest, dass das Tierreich nichts Vergleichbares kennt „zu dieser Säule aus Fleisch und Knochen, die stets Gefahr läuft, umzukippen, zu diesem wackligen Turm“.

Wie kam es überhaupt zum aufrechten Gang? Solnit erzählt von einer Pariser Konferenz 1991, bei der drei Anthropologen die Theorien zur Evolution der sogenannten Bipedie in Form von Comics präsentierten. Einer davon galt der „Schlepp“-Hypothese (besserer Lastentransport), andere der „Kuckuck“-Hypothese (besserer Überblick) oder der „Hot-to-trot“-Hypothese (weniger Sonneneinstrahlung).

Wer geht, der denkt

Das Nicht-Gehen-Müssen war lange das Privileg der Mächtigen; der Kaiser wurde getragen. Zum Ausgleich verlustierte der Adel sich in Gärten und barocken Parks, der Klerus schritt im KlosterKreuzgang auf und ab. Die in Burgen und Palästen eigens fürs witterungsunabhängige Beine-Vertreten errichteten Galerien beherbergten später auch Gemälde. Schöner Gedanke, dass die heutigen Museen ihren Ursprung im Wandelgang haben, im Gehen.

Mit der Erfindung der Eisenbahn und des Autos demokratisierte sich die beinfreie Mobilität. Im Gegenzug kam das Gehen um des Gehens willen in Mode, das Spazieren in der Stadt, das Wandern in freier Natur. Seitlich der Pariser Prachtboulevards wurden Trottoirs angelegt; von Walter Benjamin ist kolportiert, dass man Adeligen mit angeleinter Schildkröte begegnen konnte. Seht her, ich flaniere. Der Weg ist das Ziel, was für ein Luxus.

Auch Beethoven, dessen 250. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, war ein großer Geher: In der Berliner Ausstellung "Diesen Kuß der ganzen Welt!" war auch sein Spazierstock zu sehen.
Auch Beethoven, dessen 250. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, war ein großer Geher: In der Berliner Ausstellung "Diesen Kuß der ganzen Welt!" war auch sein Spazierstock zu sehen.

© dpa/Jörg Carstensen

Wer geht, der denkt. Mag sein, dass all die darüber räsonierenden Schriftsteller und Philosophen diese Kombination beherrschten, von Karl-Philipp Moritz über Kierkegaard, Hölderlin, Kafka, Robert Walser und Franz Hessel bis zum Pilzsammler Peter Handke. Handke unterscheidet diverse Typen, den friedfertigen Geher (grüßt freundlich), den verzagten Geher (hängende Schultern), den gefährlichen Geher (der einen leicht anfällt). Johann-Gottfried Seume ging 5000 Kilometer von Sachsen nach Syrakus, lobte am Ende seinen Schumacher und war der Meinung, „dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“.

Werner Herzog ging 1974 zu Fuß von München nach Paris, eine winterliche Pilger- und Rettungstour als Wette auf die Genesung der kranken Lotte Eisner. Er stilisierte sich als Schmerzensmann und notierte: „Das Wissen kommt von den Sohlen“. Die heutigen Promenadologen sind da ganz seiner Meinung.

Unsereins zerstreut das Gehen ja eher. Genau das tut ja so gut, das absichtslose Sinnieren, das sich Verlieren im Ungefähr, die Zufallsfunde am Wegrand. Plötzlich steht man am Supermarkt und weiß gar nicht, wie man dorthin gekommen ist. Gehen ist beides, Reflexion und Ablenkung, Existentialismus und eine Nichtigkeit.

Marschieren, Demonstrieren, Wallfahren

Vom öffentlichen Gehen unterscheidet sich das Gehen in Corona-Zeiten fundamental. Marschieren, Prozessieren Demonstrieren, diese kollektiven Gänge zu Kriegszwecken, zur Ehre Gottes oder der Verteidigung des Volkes finden derzeit nicht statt. Wer gemeinsam geht, eignet sich den öffentlichen Raum an, es ist ein Akt der Selbstermächtigung.

Frauen, die früher in der Draußen-Welt nichts zu suchen hatten, sind deshalb auch einzeln nach draußen gegangen, die Heldin von Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ zum Beispiel. Aus Eigensinn, schreibt Solnit. Bestimmt ist es kein Zufall, dass in der Französischen Revolution auch die Republik der Fußgänger ausgerufen werden sollte.

Dass das Gehen einer Denkbewegung gleichkommt und der Geist einer Landschaft ähnelt, in der die Ideen sich wie ein Wegenetz ausbreiten; dass sich umgekehrt in den Straßen der Großstadt wie in einem Buch lesen lässt, ist eine vielstrapazierte Metapher. Jean-Jacques Rosseau teilte seine „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ nicht in Kapitel auf, sondern in „Promenades“. Nietzsche soll sich unterwegs auf den Knien Notizen gemacht haben, Thomas Hobbes wird ein Spazierstock mit eingelassenem Tintenfass nachgesagt.

Und schon unsere Sprache entlarvt uns als permanente Gedankengänger, wenn wir Vorgänge beschreiben, den Fortschritt oder den Aufstieg ersehnen und ständig wissen wollen: Wie geht’s?

Herrlich mäandernd: Thomas Bernhards Erzählung "Gehen"

Ob sie nun für alle tatsächlich stimmt, diese enge Verknüpfung von Gehen und Denken, ob wir gewissermaßen mehr mit dem Kopf laufen als mit den Füßen, mit dieser Frage schlägt sich Thomas Bernhard in seiner fabelhaft mäandernden Erzählung „Gehen“ herum. Ständig bleibt der ewige Grantler stehen, mitten im Satz, fällt sich stolpernd ins Wort. Schließlich lassen sich die Spaziergänger in der Erzählung ja über ihren früheren Mit-Spaziergänger Karrer aus, der verrückt geworden ist – und man könnte selber schier verrückt werden vor lauter Umwegen, Irrgängen, Abschweifungen. Herrlich.

„Gehe in dich, das ist leicht gesagt. Doch es zu tun, ist schon deshalb schwerer, weil da wenig Auslauf ist“, sagte Ernst Bloch. Jetzt, auf der Straße, gehen wir uns aus dem Weg, schlagen einen Bogen. Corona sorgt für neue Alltagschoreografien. Wir sind Navigationskünstler geworden. Und sehnen uns danach, uns wieder anrempeln zu dürfen.

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