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Kolumne Schlamasseltov: Mein Berlin schmeckt bitter
Als das Essen in ihrer Kindheit plötzlich einen üblen Beigeschmack bekam, dachte unsere Kolumnistin, es läge an ihr. Jahre später verstand sie den wahren Grund.

Stand:
Ich habe als Kind gerne gegessen. Von Ingwerstäbchen bis Eselsalami: kein Problem! Mir hat’s geschmeckt – unkompliziert. Zumindest bis ich mit neun nach Berlin gekommen bin. Plötzlich hieß es von allen Seiten ich sei mäklig, pingelig. Essen wurde zum Trauerspiel.
Ich musste 30 werden, um zu verstehen, was hier eigentlich passiert ist – (m)eine jüdische Kulturkrise. Aber beginnen wir am Anfang: Ich bin in Berlin geboren, zog als Kleinkind mit meiner Mutter nach Baden-Württemberg, in Berlin in der jüdischen Grundschule eingeschult, Ende der ersten Klasse zurück nach Ba-Wü, in der dritten Klasse – nach dem Tod meiner Mutter – wieder nach Berlin. Dieses Mal endgültig.
Und da ging es los. 1000 Dinge hatten plötzlich einen üblen Beigeschmack, der mich zu verfolgen schien. Egal ob Schulessen, Pflegefamilie oder Ferienlager. Auf einmal war ich nicht mehr das Kind, das gut und gerne aß. Ich war das Kind, das nicht aufaß, im Essen rumpickte, Dinge nicht mochte. Die Mäkeltante.
Und Erwachsene ließen mich wissen, wie nervig, ungehörig, verzogen oder undankbar sie das fanden. Das Problem? Ich war ein jüdisches Kind mit jüdischen Essgewohnheiten, das sich dessen nicht bewusst war. Aber, weil das niemanden interessiert hat, kam auch niemand auf die Idee, dass das ein Problem sein könnte, als ich nach dem Tod meiner Mutter nach Berlin unter white christian (wc) Deutsche geschmissen wurde. Man hätte mich zurück in die jüdische Grundschule schicken können. Hat man nicht.
Stattdessen Ganztagsschule mit toter Oma und Frikadellen. Der metallene Geschmack den plötzlich alles hatte? War Schwein. Und bestimmte Gewohnheiten, die unter Jüd_innen nicht auffallen, wurden zur Ungeheuerlichkeit. Bis heute wird mir schlecht, wenn ich Blut im Ei sehe. Das wird uns eingeimpft. Das Ei nicht essen zu wollen oder das Stück großzügig rauszuschneiden und trotzdem Unbehagen beim Essen zu haben: unter Jüd_innen kein Mysterium. Für meine wc-deutsche Pflegefamilie: ultimativer Ausdruck von Verzogenheit.
Das Gleiche mit Wurst. Wenn etwas wie Blut aussieht: keine Chance. „Hör auf in der Wurst rumzupicken, iss wie ein normaler Mensch“ – „nicht wie eine Jüdin mit halachischer Paranoia“ wäre treffender gewesen. Meine Leibspeise Bohneneintopf schmeckte plötzlich nach Metall, Kartoffelsuppe: Metall, Wiener Würstchen: Metall. Sogar Pizza. Die Welt schien kaputt. Ich schien kaputt. Berlin schmeckte nach Metall. Mehr als 20 Jahre später habe ich verstanden, dass nicht ich das Problem war. Sondern Speck. Unter anderem. Und Ignoranz. Man hätte mir mein neues Leben in Berlin auch schmackhafter machen können …
Diese Kolumne erscheint zweiwöchentlich und beschäftigt sich mit dem jüdischen Leben in Berlin.
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