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Kolumne Schlamasseltov: Stein für Stein
Der Trend unter Nichtjuden, Steine, statt Blumen, auf Gräbern niederzulegen, stellt eine unzulässige Aneignung jüdischer Kultur dar und verfehlt den eigentlichen Zweck, meint unsere Kolumnistin.

Stand:
Starten wir mit einer Information, die etwa ein Fünftel meiner ehemaligen Geschichtslehrer*innen bis zur Ungläubigkeit schockieren wird: Bertolt Brecht war kein Jude. Das ist relevant, weil sich ein seltsames Phänomen auf Berliner Friedhöfen breit macht: das Niederlegen von Steinen. Das Ablegen von Steinen auf Gräbern und Grabsteinen ist an sich erstmal nichts Verwunderliches: eine jüdische Praxis, die so verwurzelt in der Tradition ist, dass es zig Erklärungen gibt, was die Bedeutung dahinter ist. Jede ist so richtig, wie die andere, denn wissen tuts niemand.
Was dagegen hochgradige Irritation auslöst, ist der Umstand, dass seit einigen Jahren in Berlin das Ablegen von Steinen unter Gojim trendet. Warum auch nicht: Vor allem für weiße, christlich sozialisierte Menschen, war schon immer jede marginalisierte Kultur nichts weiter als ein Selbstbedienungsladen. Und so kommt es, dass nicht nur nicht-jüdische Menschen es plötzlich geil und hip finden, Steine, statt Blümchen niederzulegen, sondern als Folge auch, dass sich neuerdings auf Hauptstadt-Friedhöfen an den (Ehren-)Gräbern deutscher, nicht-jüdischer Berühmtheiten Hügel aus niedergelegten Steinen bilden. Zum Beispiel immer wieder auf dem Grabstein von Brecht.
Jetzt könnte man hoffen, es sei dem Brechtschen Phänomen geschuldet, dass Menschen verbissen glauben, Brecht sei Jude gewesen - wie gesagt: war er nicht, nur für jene, die es nochmal lesen müssen. Aber tatsächlich stapeln sich in Berlin auch die Steinchen auf den Grabsteinen von Celebrities wie Marlene Dietrich, Christa Wolf, Johannes Rau, Hegel…; und wenn sich sogar bei einem Antisemiten wie Fontane die Steine türmen, dann hat der Zynismus der kulturellen Aneignung tatsächlich seinen Zenit erreicht.
Dass die Kulturlosen nun unsere Trauer- und Totenkultur appropriieren – im Land, das wie kein anders für jüdischen Tod steht wohlgemerkt, zeigt, wie tief die faschistische Idee in Kaltland greift, ein Zugriffsrecht auf alles Jüdische zu haben. Und es geht nicht ums Prinzip: Jeder von Gojim niedergelegte Stein macht uns unsichtbar. In unserer Existenz und für einander. Denn das Element, das im Grunde alle Auslegungen dieser Praxis teilen, ist der Gedanke, etwas Unvergängliches bei unseren Toten zu lassen. Ein Code unter Jüd*innen für die Ewigkeit: jemand von uns war im Gedenken hier. Diese Person ist kein zweites Mal gestorben.
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