zum Hauptinhalt
Berlin 1945. Eine Gruppe von Frauen kommt mit Sowjetsoldaten ins Gespräch.

© akg-images

Kriegsende in Berlin: Die Angst der Höhlenmädchen

Es ist eine bemerkenswerte literarische Wiederentdeckung: In Westend“ von 1966 schildert Annemarie Weber das Kriegsende in Berlin mit beinahe zoologischem Erstaunen. Nun ist der Roman von einem Berliner Verlag neu aufgelegt worden - und überzeugt mit einer konsequenten Nahperspektive.

Die Sieger triumphieren nicht. Sie nähern sich kriechend. Der erste Russe, der im April 1945 das Mietshaus Soorstraße 106 im Berliner Westend erreicht, ist ein Mann in lehmbrauner Hose und lehmbrauner Jacke. Die Jacke war über dem breiten Gürtel blusig gezogen. „Der Mann lag auf dem Mauerrand, ein Käfer, der seinen Weg suchte. Dann fiel er von der Mauer herab. Ein zweiter Mensch in gleicher Kleidung kam denselben Weg gekrochen. Im sonnigen Morgen schallten kläffende kehlige Laute. Die Fremdheit dieser Rufe war der Beginn der Sensation.“

So beginnt in dem Roman „Westend“ die Schilderung vom Kriegsende in der Reichshauptstadt: mit einem beinahe zoologischen Erstaunen. Die kehlige Aussprache der Rotarmisten wird registriert, ihre wohlgenährten Gestalten, die nicht den Karikaturen der NS-Propaganda entsprachen, ihre Rundgesichter und der Geruch von Schweiß und Kommissbrot, der von ihnen ausging. Denn die Sieger kommen den Besiegten in den Tagen und Nächten des Frühsommers 1945 sehr nahe: als Vergewaltiger. Die Aufforderung „Frau komm“ wird zum Synonym einer Männergewalt, der unzählige Mädchen und Frauen zum Opfer fallen.

Das Buch von Annemarie Weber ist ein glänzendes literarisches Dokument dieser Zeit, das jetzt wiederentdeckt werden kann. Als der Roman 1966 herauskam, wurde gelobt, dass er – so eine Kritik – „ohne Rücksicht auf Verluste“ direkt in sein heikles Thema springe. Nun erscheint eine Neuausgabe (AvivA Verlag, Berlin 2012, 319 S., 19,90 €), versehen mit einem Nachwort, in dem sich der Enkel Robert Weber an die Autorin erinnert, die 1991 gestorben ist.

Die Heldin von „Westend“ heißt Elsa Lewinsky, sie verfügt über ein Talent, das in jenen Tagen überlebenswichtig ist: Kaltschnäuzigkeit. Die Bewohner ihres Hauses haben sich in Erwartung des nahenden Untergangs in den Luftschutzkeller zurückgezogen, sie gleichen Höhlenbewohnern, deren Solidarität nicht sonderlich stark ausgeprägt ist. Neue Nachbarn, die eine Wohnung zugewiesen bekamen, weil sie ihre alte verloren hatten, betrachten sie mit Abscheu. Es gibt Opportunisten und Duckmäuser, ein Händler, der den Leuten nichts mehr verkaufen will, liegt später erschlagen in seinem Laden. Und muss man sich vor den Russen fürchten, nach allem, was sie mit den Frauen machen sollen? Es wird gewitzelt: „Man kann nicht ewig Jungfrau bleiben!“ Galgenhumor.

„Westend“ ist konsequent in einer Nahperspektive geschrieben, die Handlung verlässt kaum einmal die Umgebung des Spandauer Damms. Der Kurfürstendamm, Ziel eines Ausflugs, erscheint wie ein fremder Planet. Als die Russen dann da sind, Zivilisten aus dem Keller treiben und einer zu Elsa sagt: „Komm, Frau“, da mischt sich Ekel mit Apathie. „Elsa sah den Mond an. Er war von Lenau. Der Mann auf ihr tat ihr leid.“ Eine Vergewaltigung ist ein brutaler Akt, aber Selbstmord begehen muss man deshalb nicht. „Ihre Geschlechtlichkeit war abgestellt. Sie fühlte sich nicht geschändet. Sie war nicht erniedrigt. Ihr Geist war frei.“

Elsa möchte kein Opfer sein, deshalb sucht sie sich einen sowjetischen Offizier als Beschützer. Damit folgt sie derselben Strategie wie der Erzählerin in dem Bericht „Anonyma – Eine Frau in Berlin“: das Arrangement mit einem „Wolf, der mir die Wölfe vom Leibe hält“. Die Aufzeichnungen der Anonyma – hinter der sich wohl die Journalistin Marta Hillers verbirgt – hatten für Aufsehen gesorgt, als sie 2003 veröffentlicht wurden. Das Buch wurde ein Bestseller, es folgte die Verfilmung. Die Erstausgabe war 1959 auf Ablehnung gestoßen, weil der Text „die Ehre der deutschen Frau“ beschmutze. Vieles verbindet Annemarie Weber mit der Anonyma: der lakonische Ton, das genaue Hinschauen, eine gelegentliche Flucht in Sarkasmus und Ironie.

„Westend“ erzählt von einer Endzeit und von einem Anfang. Elsa Lewinsky findet Unterschlupf bei Bekannten in einem zerschossenen Appartementhaus, im Garten liest sie den „Oblomow“. Als die Briten in ihren Sektor einziehen, bekommt sie eine Stelle als Dolmetscherin und beginnt leidenschaftslos eine Liaison mit einem Korporal. Sie färbt sich die Wimpern und trägt „zyklamrote Fingernägel“, der Engländer sagt: „So seid ihr Deutschen. Ihr reißt die Arbeit an euch. Aus Ehrgeiz.“ Die ganze Zeit über hat sie backfischhaft sentimentale Tagebucheintragungen an ihren Verlobten gerichtet, der an der Front vermisst war. Am Ende stehen sie sich auf einem Bahnsteig gegenüber, und der Verlobte schimpft, weil sie geschminkt ist: „Wisch das schnell ab!“ Elsa ist zu einer Fremden geworden.

Die „Westend“-Heldin trägt autobiografische Züge. Annemarie Weber, 1918 als Tochter eines Wirtschaftsprüfers in Berlin geboren, absolviert eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitet nach dem Krieg als Übersetzerin für die britische Militärregierung. Aus einer ersten, 1951 geschiedenen Ehe stammen zwei Söhne. Sie beginnt eine journalistische Karriere, ist zeitweilig Redakteurin bei der „Berliner Morgenpost“, im Tagesspiegel erscheinen fast vier Jahrzehnte lang Feuilletons, Reportagen und Reiseberichte von ihr. 1951 druckt die „Neue Zeitung“ die erste Kurzgeschichte.

„Sie war eine dominante Frau“, sagt Rudolf Lorenzen, ihr zweiter Ehemann. Lorenzen, 90, ist Schriftsteller, sein Roman „Alles andere als ein Held“ gehört zu den lange übersehenen Meisterwerken der deutschen Nachkriegsliteratur. Wie die Liebe von Weber und Lorenzen begann, das wirkt selbst wie ein Roman. Er lebte als Werbetexter in der bayrischen Provinz und las einen Artikel von ihr über die Schwierigkeiten berufstätiger Frauen, einen Mann zu finden. „Können Sie mir einige Adressen solcher Frauen besorgen?“, fragte er in einem Brief. Sie antwortete: „Es gibt keine Adresse, das bin ich selber.“ Ein Jahr lang schrieben Lorenzen und Weber einander, dann heirateten sie im bayrischen Deggendorf, ohne einander vorher gesehen zu haben.

In West-Berlin stiegen Weber und Lorenzen zu einem „Glamour-Paar“ der Nachkriegsboheme auf, so der Enkel Robert Weber. Anfangs agierte Lorenzen als Zuträger, etwa bei Gerichtsreportagen. Weber ermunterte ihn zum Schreiben. Am Ende führten sie ein Redaktionsbüro mit eigener Sekretärin in einer Villa an der Heerstraße und belieferten Blätter in ganz Deutschland mit Texten. Literarisch ambitionierter sei seine Frau gewesen, sagt Lorenzen. In den Frankreich-Urlaub nahm sie Prousts komplette „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit. Die Ehe scheiterte, als Lorenzen eine Affäre mit der Sekretärin begann. 1968 folgte die Scheidung.

Annemarie Weber hat ein halbes Dutzend Romane hinterlassen. Verlegerin Britta Jürgs möchte demnächst „Roter Winter“ von 1969 wieder auflegen. Da geht die Geschichte der Elsa Lewinsky weiter, als – so der Untertitel – „Zwischenspiel einer Ehe“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false