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Das "Die", das "um", das "s": Fein säuberlich sortiert Schneider seine Wort- und Letternsammlung und klebt sie zu spruchreifen Collagen zusammen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kunst aus Tagesspiegel-Zeitungen: Schnipsels Traum

Carsten Schneider ist ein Freund des zerschnittenen Wortes. Seit zehn Jahren zerschneidet er jeden Tag zwei Tagesspiegel-Ausgaben und macht daraus abstrakte Collagen. Hausbesuch bei einem, der aus Zeitungen Kunst macht.

Es war einmal ein Mann, der lebte in einem schäbigen Hinterhof in der Kastanienallee. Er trug schwarze Kleidung und in seiner kleinen Küche türmten sich gelbe Bananen. In ein, zwei, drei Schüsseln. Gefragt, was das soll, sagte er: „Da mache ich Bananenmilch daraus.“ Von Bananenmilch schien der Mann nicht genug zu bekommen.

Eine Tür weiter, den schmalen Gang hinunter, hortete der Mann in Schwarz noch größere Schätze. Sie hörten auf gar wunderliche Bezeichnungen: Das „Blaue vom Himmel“, das „Dunkle aus dem Tagesspiegel“, den „Atem eines Tages“, das „,S‘ des ganzen Jahres“. Aufgezeichnete und ausgeschnittene Wörter und Buchstaben und Farbflächen. In Kisten und Kästen, in Schubern und Schachteln, als digitale Audiodatei oder analoge Papierschnipsel. Wild wuchernde, fein säuberlich sortierte Wort- und Letternsammlungen, 180 an der Zahl.

Dazu Pappen, Pappelhölzer, Scheren, viele Scheren, Kleber, Lupen, Pinzetten, Rechner und externe Festplatten mit vielen, vielen Terabytes. Ein gigantischer Wortspeicher, eine riesige Buchstabensuppe, ein Schnipsel-Paradies, getarnt als altmodisch-neumoderne Bastelstube. Gefragt, wozu das dient, sagte er: „Da mache ich Kunst daraus.“ Klangcollagen oder Bilder, schon Stücker hundert, wenn nicht mehr, kleine, große, leichte, schwere. Von Wörtern schien der Mann nie genug bekommen zu können.

Doch gefragt, was seine sammelwütige Wortkunst bezwecke, fehlten dem Mann die Worte. Und wovon man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen. Dann die Antwort ganz von allein: „Ich finde es gut, dass sie da ist.“ Obwohl sie weder ein fremder Betrachter noch ein Galerist je gesehen hatte. Das kümmerte den Mann nicht. Das kümmert niemanden, der tut, was er tun muss. „Ich lebe von der Kunst – in jeder Hinsicht!“ Also auch in finanzieller? Das meinte er dann doch nicht. Der Mann machte eine wegwerfende Bewegung. „Ich ignoriere das Geld, und das Geld ignoriert mich.“

Collagen hat er schon als Schüler gemacht

Bei dem Mann, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um alles andere als eine Märchengestalt. Carsten Schneider existiert tatsächlich. Er wurde 1971 in Bad Oldesloe geboren. Seit dem Jahr 2000 als freier Künstler in Prenzlauer Berg. Collagen hat er schon als Schüler gemacht und sich für die Dada-Collagisten Hannah Höch und Kurt Schwitters erwärmt.

Er hat Kulturpädagogik studiert und als Schauspieler, Regisseur und Autor für deutsche Bühnen und Hörfunksender gearbeitet, mehr als 25 Theaterstücke und Hörspiele geschrieben oder dafür – oft zusammen mit Suzanne J. Hensler – Interview- und Soundcollagen geschaffen. 2012 etwa für Uli Jäckles „Odysseus“ am Deutschen Theater. Er ist nicht nur ein manischer Dekonstruierer, sondern auch ein professioneller Collageur. Einer, der weiß, dass im Fragment mehr Wahrheit als im großen Ganzen stecken kann.

Wörter dekonstruieren, das heißt ja Sinneinheiten und damit Welten zerlegen und anschließend daraus andere bauen. Das ist nichts, was man nebenbei zwischen Kaffee und Abendbrot macht. Das ändert für immer den Blick, das Leben. Ein Zeitungsartikel, ein Text ist keine Geschichte mehr. Er ist „Licht“ und „Schatten“, „erste“ und „letzte“, „nun“ und „die“, „Haus“ und „Zahl“, „S“ und „Q“. Das zeigt der Mann anhand zweier Tagesspiegel-Ausgaben, die vor ihm liegen.

Häufig fehlt es am "um"

Seit zehn Jahren zerschneidet er täglich zwei Exemplare. Gelegentlich auch die „Welt“, „Bild“ oder die „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung“, deren Abonnement seine Mutter hält, aber täglich nur den Tagesspiegel. Warum? „Die Linien sind toll.“ Dafür fehle es häufig am „um“. Wo er doch von Ums nicht genug bekommen kann. „Manchmal warte ich zwei Wochen auf das nächste ,um‘ in einer Überschrift, bevor ich endlich ein Bild anfangen kann.“

Nicht nur Lesbares, auch Laute haben es ihm angetan. „Schafe, Schafe, Schafe, Schaufel, Schaufeln, Schaufeln auf der Fahrbahn, Scherben, Schlamm, Schlammlawine“, ein Stakkato unterschiedlichster Stimmen erklingt, als Carsten Schneider eine Radiocollage anspielt. „Digitaler Audioschnitt ist mein Ausgleichssport zum analogen Schnippeln.“ Vier Jahre hat er an „Gefahren eines Jahres“ gesessen. Das komplette Programm des Deutschlandfunks ein Jahr lang mitgeschnitten, aus dem Verkehrsfunk alle Gefahrenmeldungen exzerpiert und dann – alphabetisch geordnet und rhythmisiert – ein experimentelles Sprachstück daraus produziert. Eins von eigenartiger abstrakter Schönheit, in dem beim Zuhören dasselbe wie beim Anschauen der Bilder geschieht: Die Wörter, die Buchstaben entworten sich, wirken nicht mehr als sinnhaftes Zeichen, sondern nur noch als tönendes oder tanzendes Ornament. „Die verdichteten Fragmente von ihrer semantischen Vergangenheit befreien“ nennt Carsten Schneider das und konkretisiert: „Als Medienkünstler mache ich Realitätsarrangements, dekonstruiere Konstrukte nach exakten Kriterien und setze die Information zusatzfrei zu einer künstlerischen zusammen.“

Letter-Man. Carsten Schneider, Jahrgang 1971, pflegt 180 laufende Wort- und Buchstabensammlungen.
Letter-Man. Carsten Schneider, Jahrgang 1971, pflegt 180 laufende Wort- und Buchstabensammlungen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Manchmal gehören ein Bild und eine Klangcollage zusammen, so wie das großflächige Bild, für das er ein Jahr lang den Buchstaben „S“ aus dem Tagesspiegel geholt hat. Und aus dem Programm des Deutschlandfunks alle S-Laute eines Tages. Zwei Jahre hat das gedauert. Seltsam und faszinierend zugleich klingt auch die einstündige Collage „Der Atem eines Tages“, die aus Ein- und Ausatmern von Hörfunksprechern besteht. Des Weiteren am Lager: „Die Infinitive eines Tages“, „Alle Orte eines Tages“, „Der erste Satz eines Jahres“, „Das zweite ,N‘ eines Tages“. Das zweite „N“? Der in diesem Moment wieder sehr märchenhaft klingende Mann nickt. „Ja, 365 zweite ,N‘s, von jedem Radiotag eines.“ Warum er ausgerechnet die gesammelt hat? „Ich möchte wissen, wie das klingt.“

Vielleicht kommt er groß raus, wenn es keine Zeitungen mehr gibt

Auf der Werkbank liegt gerade ein „Fleisch“-Bild, das nur aus den Fleischwaren-Anzeigen besteht, die Supermärkte schalten. „Da nehmen die ganz häufig für Lamm, Huhn oder Schwein das identische Foto!“ Es ist nicht so, dass ein Weltzerleger, der so genau hinschaut wie sonst keiner, nicht auch ganz banale Erkenntnisse gewinnt.

Dass Zeitungen aus Papier im Onlinezeitalter eine gefährdete Spezies sind, bringt den erklärten Freund des gedruckten Wortes nicht aus der Ruhe. „Ich akzeptiere die Vergänglichkeit komplett.“ Eine Freundin behaupte immer, er käme groß raus, wenn es keine Zeitungen mehr gebe. So zurückhaltend, wie Schneider wirkt, hätte er dagegen doch nichts. Dann könnte er ein Atelier mieten und noch viel größere Bilder aus seinen Schnipselsammlungen bestücken. Ob er diesen Text, den ersten, der sich um seine Collagen dreht, auch fleddert? Der Mann in Schwarz lächelt. Er hat ein strenges Konzept. Ausgeschlossen ist es nicht.

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