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Der Schriftsteller Uwe Tellkamp im März 2018 bei der Diskussionsveranstaltung "Streitbar!" im Kulturpalast.

© picture alliance / Dietrich Flechtner

Lesung von Uwe Tellkamp in Pulsnitz: „Nach rechts bekommt man sofort auf die Mütze“

Der zweite „Turm“ braucht noch viel Arbeit: Der umstrittene Schriftsteller Uwe Tellkamp liest in Sachsen aus seinem neuen Roman und redet sich in Rage.

Es ist der Tag, an dem im thüringischen Landtag gerade der Fünf-Prozent- und-ein-Tag-FDP- Ministerpräsident Kemmerich gewählt wurde, und Uwe Tellkamp räsoniert über die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft, Intellektuelle, womit er bisweilen auch schon mal „Scheißjournalisten“ meint.

Dass etwa die Intellektuellen von der „FAZ“ und der „Welt“ „schon härter“ gewesen seien als früher: „Das sehe ich heute kaum noch. Heute ist alles wurscht, alles gut. Sie haben die Szene ja gesehen, wie die Frau den Blumenstrauß dem gewählten FDP-Mann vor die Füße wirft, ja, weil sie es als geborene Demokratin nicht ertragen kann, dass es nun anders geht als sie dachte.“

„Eine Verwahrlosung der Moral und ein Taktieren nur um der Macht willen“ assistiert ihm ein Mann aus dem Publikum. Dabei bleibt unklar, ob er und Tellkamp dasselbe meinen. Der Schriftsteller schließt jedenfalls an, dass Intellektuelle „institutionenkritisch und damit staatskritisch“ sein und, „ich sage das bewusst pathetisch: „auf der Seite der Unterdrückten“ stehen sollten.

„Doch was wir heute erleben: Intellektuelle, die wie in der DDR oppositionskritisch sind, die staatsfromm irgendwelchen Leuten hinterherrennen, von denen sie sich Pfründe erhoffen, von denen sie auch abhängen.“

Uwe Tellkamp sitzt an diesem Mittwochabend in keiner Talkshow, ist nicht Diskussionsteilnehmer auf einem politischen Podium.

Über hundert Menschen waren in den Kultursaal der Klinik gekommen

Nein, er hat gerade eine Stunde lang aus seinem „Turm“-Nachfolgeroman gelesen, im Kultursaal der Vamed Klinik Schloss Pulsnitz, wo in den nächsten Tagen zum Beispiel noch ein gewisser Dr. Christian W. Schmidt mit Kurzgeschichten („anregend, lustig und deftig“) oder der „Wortspielkabarettist“ Tilo Richter zu Gast sind.

Pulsnitz ist ein sächsisches Städtchen, das 25 Kilometer nordöstlich von Dresden liegt. Bekannt ist es für seine Pfefferkuchen, im Zentrum reihen sich gut erhaltene Bürgerhäuser, leider stört die sehr verkehrsreiche Durchgangsstraße von Kamenz nach Radeberg die Idylle.

Eingeladen worden war Tellkamp von einem örtlichen Kultur- und Bildungsverein, dem Ernst-Rietschel-Kulturring, und angekündigt hatte man ihn unter anderem mit dem ausufernd-umständlichen Titel seines Romans, der erst im Frühjahr 2021 veröffentlicht wird: „Der Schlaf in den Uhren. 1. Band: Lava – offener Roman, oder: Nachrichten aus der Chronik.“

Man könnte also wegen der Nähe Pulsnitz’ zur sächsischen Landeshauptstadt von einem Heimspiel für den 1968 in Dresden geborenen und dort lebenden Schriftsteller sprechen; über hundert Menschen sind aus der Umgebung und Dresden gekommen. Doch so unproblematisch ist das für Tellkamp mit Auftritten nicht mehr.

Erst Anfang des Jahres war eine seiner Lesungen im Dresdner Lingnerschloss kurzfristig abgesagt worden, aus politischen Gründen. Dem Förderverein des Schlosses war spät noch aufgefallen, dass diese Veranstaltung innerhalb einer Reihe des rechten Magazins „Tumult“ stattfinden sollte, und da hatte man das „Neutralitätsgebot“ nicht gewahrt gesehen.

Das neue Buch wird noch im Verlag lektoriert

Gab es deshalb schon Aufregung um Tellkamp, so wurde diese zuletzt von den Springer-Zeitungen „Welt“ und „Welt am Sonntag weiter angeheizt.

Beide „debattierten“ vor allem spekulativ, ohne echte Belege und ohne Romankenntnis, dass es zwischen dem Suhrkamp Verlag und seinem Autor Missstimmigkeiten gebe. Dass Suhrkamp den angeblich lange fertigen Roman deshalb erst im Frühjahr 2021 veröffentliche, weil dieser dem traditionell links gestimmten Verlag womöglich politisch nicht genehm sei.

Tellkamp, wie üblich streng gescheitelt, gekleidet in einen schwarzen Anzug, mit grünen Socken und ochsenblutfarbenen Schuhen, antwortet auf die in Pulsnitz gestellte Frage aus dem Publikum, wann das Buch erscheinen werde, erstmal nur knapp: „Wenn es fertig ist.“ Und, etwas ausführlicher:  „Nein, es ist noch nicht fertig. Es liegt im Verlag, wir lektorieren dran, wir arbeiten dran, aber es ist auch noch nicht fertiggeschrieben.“

Dass es solange dauere mit dem „Turm“-Nachfolger, erklärt er schließlich, habe mit privaten Gründen zu tun gehabt. Aber auch damit, dass er eine Zeit lang das Interesse an dem Stoff verloren, er nicht mehr gewusst habe, was daran noch erzählenswert sei, soviele Filme und Bücher wie es inzwischen über die Wendezeit gegeben hätte.

„Dann gab es die wie auch immer zu bezeichnende Krise 2015, und ich habe lange an einer Passage des Buches über diese Zeit gearbeitet. Der Teil spielt in dem fiktiven Stadtstaat Treva. Da gibt es einen Erzähler, Fabian, der arbeitet im Seeminenreferat und ist Mitarbeiter der Tausendundeinenacht-Abteilung. Das ist der Punkt im Lektorat, an dem der Verlag gesagt hat: Das sind zwei Bücher, hier musst du nochmal ran, nicht zwei halbe Romane in einem, sondern zwei ganze.“

Tellkamp fügt an, dass es sich beim ersten Teil, „Lava“, also um mehrere, in sich abgeschlossene Bücher handelt; und dass der zweite, noch nicht fertige Teil, „Archipelago“ heißen soll, mit jenem Fabian als Chronisten, als Gegenwartsbeschreiber.

"Mir ging es immer um das Gesellschaftliche

Er liest aus dem angekündigten ersten Teil mehrere Passagen, mit Protagonisten, die aus dem „Turm“ bekannt sind: Christian, ein alter ego von ihm, der in Leipzig sein Medizinstudium aufnimmt und um den 9. November herum, erst ein paar Tage zuvor, dann danach, diese Stadt kennenlernt; oder dessen Onkel Meno Rhode, der als Lektor arbeitet, auf einer sogenannten Bücherinsel, bei einem „Literaturkombinat“, das in einer Buntgarnfabrik angesiedelt ist. Meno versucht, ein Buch der Autorin der regimekritischen Autorin Judith Schevola herauszubringen. Die dritte Hauptfigur dieses ersten Teils, so teilt er zu Beginn der Lesung mit, sei, anders als im „Turm“, nicht Richard, der Vater von Christian, sondern dessen Mutter Anne, eine Bürgerrechtlerin und angehende Politikerin, die später Kanzlerin von Treva wird.

Ausufernd ist also nicht nur der Titel, sondern das gesamte Projekt. Ambitioniert sowieso. Man ahnt, wo die Manuskript-Klippen sind, die Verlag und Autor zu umschiffen haben. Wo es womöglich wirklich nicht nur um formale und stilistische Stimmigkeiten dieses sicher dickleibigen Romans geht. Was Tellkamp liest, klingt nach dem „Turm“, weniger gewunden, weniger lyrisch, entschlackter.

Nach seinem Vortrag, als zögerlich die Fragen kommen, spricht er schwurbelig von einer „Weltsicht, die aus Inseln besteht“, deshalb der Archipel-Titel, dann klarer von einem „Märchen, das Wirklichkeit“ hervorbringen würde.

Und: „Hier kämpfen Leute um Ideologien, darum, was eine Gesellschaft sein soll. Mir ging es immer um das Gesellschaftliche, und damit um das Politische, nicht als Agitation, sondern als Stoff."

Die Justizmininisterin und der Punk...

Umso erstaunlicher, dass Tellkamp im Verlauf der Fragerunde den Raum des Literarischen, den seines Romans verlässt. Er beginnt zu politisieren, als ihn jemand nach der Generation fragt, die in den siebziger Jahren geboren wurde, in der DDR drei lange Jahre zum Militär musste, um studieren zu können, und wo da der „Aufschrei“ der Intellektuellen bleibe.

„Ja, wo bleibt er, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil alle Intellektuellen nicht drei Jahre gehen mussten, manche konnten sich drücken. Manche haben immer noch eine Neigung zu dem System, das merkt man in der heutigen Zeit besonders."

Tja, und dann ist der Autor bei den Themen, die ihn seit spätestens 2015 umtreiben; bei seinem Vergleich der Systeme in der DDR und der Bundesrepublik, in der er heute lebt und in der er für bestimmte Meinungen glaubt über Gebühr angefeindet zu werden. „Wir haben eine Demokratie, die nur noch Fassaden enthält, auch wie in der späten DDR.“

Er beklagt, dass Günter Grass und viele andere Intellektuelle gegen die Wiedervereinigung gewesen seien. „Wir kennen die Abwehrschlachten, die geführt worden sind gegen das sogenannte Volk; die Unlust vieler Intellektueller, das, was die Mehrheit des Volkes will, zu akzeptieren. Überheblich setzen sie sich von oben herab drüber hinweg, das kennen wir alles, das ist heute nicht anders.“

Uwe Tellkamp redet sich in Rage, „das was nach rechts sofort eins auf die Mütze bekommt, können sie sich nach links lange erlauben: Wir haben jetzt in Sachsen eine Justizministerin, die früher in einer Punkband gesungen hat, das kümmert keinen. Und dann sitzt da einer wie ich, regt sich auf und kriegt eins auf die Mütze“.

In dieser Form geht es noch Minuten weiter. Tellkamp scheint sich als mutig zu empfinden, als Rebell, wirkt aber ebenso obsessiv, ja traumatisiert.

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