Kultur: Literatur des Leibes
Patrice Chéreau liest in der Berliner Schaubühne
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Vielleicht liegt ja eine geheime kulturelle Botschaft darin: Das ästhetisch zwischen Performance, Installation, Tanz, Zirkus und Theater mäandernde Festival „France en scène“ wird ausgerechnet mit einem Abend in der Schaubühne eröffnet, der kaum weniger theatralisch sein könnte. Zwei dunkelgraue Tische, zwei dunkel gekleidete Herren mit Manuskripten, ein Tonkünstler mit Computer, Sampler und Mischpult. Das ist alles.
Patrice Chéreaus Lese-Performance „Das Mausoleum der Liebenden“ steht für die kulturelle Keimzelle der französischen Theatererfahrung. Noch bevor es Schauspieler, Kostüme, Bühnenwelten und Inszenierungsideen vorführt, hat es literarische Séance zu sein, rhetorische Beschwörung, Anrufung des Autors durch Ausrufung seiner Texte. Wobei im Falle des früh an Aids gestorbenen Hervé Guibert zwischen der Literatur und dem Körper des Autors so dichte Beziehungen bestehen, dass sich Theatralisierungen hier fast von selbst verbieten.
Wenn Chéreau aus den Krankenhausaufzeichnungen Hervé Guiberts liest, dann wird Weltwahrnehmung fast gänzlich auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers reduziert, werden für den Autor bislang unbekannte medizinische Fachausdrücke zu neuen mächtigen Vokabeln einer Literatur des Leibes, der jeden Tag ein Stück Leben einbüßt. Dieses Schreiben zum Tode ist in der ohnehin stark autobiografisch geprägten Literatur Guiberts nur konsequent. Sie ist allerdings auch ein Dokument innerhalb eines Kulturbetriebs, der von Aids gerade in den achtziger und frühen neunziger Jahren ständig erschüttert worden ist.
1973 hatte der Autor und Journalist Guibert die frühe, genialische Chéreau- Inszenierung der „Dispute“ von Marivaux gesehen und mit dem Theaterregisseur Kontakt aufgenommen. Die sich anschließende gemeinsame Arbeit zog sich über fast ein Jahrzehnt hin. Aus der zunächst geplanten Arbeit der beiden über einen Text von Jean Genet wurde ein Film, der aus Guiberts persönlicher Geschichte wichtige Impulse bezog. Aus dessen „L’homme qui pleure“ wurde 1983 „L’homme blessé“ (deutscher Titel: „Der verführte Mann“) De über die Initiation eines Achtzehnjährigen in die eigene Homosexualität, den Verrat und emotionalen Betrug im Prostituierten- und Strichermilieu. In dieser Zeit veröffentlichte der nunmehr bei der Zeitung „Le Monde“ engagierte Journalist und Autor zudem Bücher mit Kindheits- und Jugenderinnerungen.
Was Chéreau und der Journalist und Fotograf Guibert bei ihrer Begegnung teilten, war die Begeisterung fürs Kino: Das Filmemachen war Guiberts Kindheitstraum, und Chéreau hoffte, Jahre nach dem grandiosen Opernerfolg mit seinem Jahrhundert-„Ring“, seinem Théâtre des Amandiers eine Filmproduktion anzugliedern. Das Schauspiel nahm für den Regisseur im Konzert der audiovisuellen Medien bereits Mitte der achtziger Jahre keinen zentralen Platz mehr ein.
Wenn die Akademie der Künste ihr Mitglied bei ihrer „Hommage an Chéreau“ in diesen Tagen vor allem kinematografisch ehrt und seine Bühnenpräsenz sich auf die Guibert-Lesung beschränkt, bleibt ein kleiner Schmerz: Berlin hat viele seiner großen Theaterarbeiten verpasst – zuletzt seine „Phèdre“ von 2003 – und kann mit dem „Mausoleum der Liebenden“ allenfalls literarisch an diese grandiose Epoche des französischen Theaters erinnern. Wie sehr aber Chéreau mit seinem Kino bisweilen in die dem Theater vergleichbaren, geschlossenen Bildwelten zurückdrängt, wie wenig definitiv die Theaterabstinenz sein könnte, darüber gibt sein letzter, hochartifizieller Film „Gabrielle“ Auskunft.
Vor 20 Jahren hat Chéreau bereits in dem Zwei-Personen-Stück „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ des 1991 an Aids gestorbenen Bernard-Marie Koltès auf der Bühne gestanden, als ein hochkonzentrierter, die Sprache als Waffe handhabender Kämpfer. Heute wirkt er an der Seite des jungen Philippe Calvario wie ein barocker Künstler. Das große Sterben ist vorüber, das Aids-Drama Teil einer abgeschlossenen Epoche. Die Leiber liegen im Mausoleum der Liebenden. Zu Beginn des Festivals zeigt sich Frankreich als Land, das der Präsentation seines neuen bunten Theater-Crossovers behutsam den literarischen Prolog voranstellt.
Eberhard Spreng
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