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Schriftstellerin Judith Zander.

© Imago

Literatur: Die Protagonistin mag sich nicht festlegen, auch nicht aufs Geschlecht

Plädoyer für das Dasein als Einzelgängerin: Judith Zanders Roman „Johnny Ohneland“ bewegt sich in der Spur von Uwe Johnson und den Cresspahls.

Bereits mit ihrem Romandebüt „Dinge, die wir heute sagten“ aus dem Jahr 2010 hat sich Judith Zander als stupend stilsichere und eigenwillige Autorin erwiesen. Bei dieser überbordenden vorpommerschen Dorf- und Familiensaga handelt es sich um einen Kollektivroman verschiedener Stimmen, die bei einer Beerdigung zusammenkommen – darunter Ingrid, die Tochter der Verstorbenen. Sie wird von der Erzählerinstanz in der Du-Form angesprochen, was eine Halbdistanz erzeugt.

Diese spannende und herausfordernde Ansprache der Hauptfigur wendet Judith Zander jetzt auch in ihrem zweiten, ähnlich umfangreichen Roman „Johnny Ohneland“ (dtv, München 2020. 525 Seiten, 25 €) an. Die Titelfigur Joana Wolkenzin, genannt Johnny, kehrt aus Australien von einem Aufenthalt als Dozentin des Goethe-Instituts in Australien zurück an die Ostsee: dorthin, wo die Wellen wie „however“ klingen, wie es im Debüt heißt.

Das Institut zur Vermittlung deutscher Kultur im Ausland bekommt dabei mit seinen angestellten „Walküren“ und „drögen Praktikantinnen“ manchen ironischen Hieb ab.

Johnny geht Autonomie über alles

An fünf Reisetagen im September lässt die junge Frau ihre bisherigen Wohnorte und die dazugehörigen Liebesabenteuer Revue passieren – von Vorpommern über den Studienort Leipzig bis hin zu Finnland und Australien, vom Kommilitonen Martin über das androgyne Luxemburger Luxusgeschöpf Loïs, das ihr als Ostdeutscher so reizvoll fremd ist, bis hin zur Australierin Robyn. Der sperrige Stil dieser ersten Seiten kündigt eine Protagonistin an, der ihre Autonomie über alles geht.

Der liebste Gefährte dieser Einzelgängerin ist der Wortwitz, der deshalb zuweilen auch überstrapaziert wird: „Wie erwartbar, wie variationslos das Leben in seiner Ambivalenz doch irgendwann wird, alles hat zwei Seiten, mindestens, das trifft immer zu. Das trifft, immerzu. Aber nicht unbedingt das Schwarze, die Resultate dieser schwer zu kontrollierenden Neigung, die Worte doppelt und dreifach nutzbar zu machen, ihnen zweite und dritte Ebenen abzupressen, nichts umkommen zu lassen.“

Eine Éducation sentimentale über Kontinente und Systeme hinweg

Wer sich von solchen Gedankenspielen und eingestreuten poetologischen Aussagen nicht abschrecken lässt, den erwartet die ebenso hintersinnige wie sinnliche Darstellung einer Éducation sentimentale über mehrere Kontinente und politische Systeme hinweg. Das beginnt schon mit den sprechenden Namen („Namenwahl, Damenwahl“), für die Zander eine Vorliebe hegt: Wolkenzin, das passt zu einer leidenschaftlichen Reisenden: „Was machte man in der Fremde? Man fütterte zuerst sich selbst und dann sein Tagebuch, so hattest du es immer gehalten.“

Irgendwann in den 1980er Jahren sieht sich Joana mit ihrem kleinen Bruder Charly im Fernsehen einen Western an, der mit dem Ausruf endet: „Mich hat’s erwischt, Johnny!“ Das veranlasst das eigensinnige Mädchen, sich fortan Johnny zu nennen und sich auf kein Geschlecht mehr festzulegen – weder bei sich selbst noch bei ihren Partnerinnen und Partnern. Die Autorin verhandelt dieses Thema im Gegensatz zu derzeitigen Genderdebatten völlig unaufgeregt, ja mit geradezu nordischer Dezenz und Gelassenheit: eine Wohltat!

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Joanas oder Johnnys Mutter lässt früh die Familie im Stich, und auch sonst ist kein weibliches Vorbild vorhanden. Der Roman liest sich daher einerseits als Plädoyer für das Dasein als Einzelgängerin mit dem „Bedürfnis, allein und wirklich zu sein“, andererseits als Rechenschaftsbericht an die Mutter, die morgens immer so elegant aufs Fahrrad stieg und davonfuhr, ein Vorgriff auf ihr späteres Verschwinden. Es vollzog sich ebenso endgültig wie das der DDR, deren letzte Jahre Joana als Kind erlebte. Dieser starke Mutterbezug erinnert an Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ als Prototyp des Bildungsromans: der junge Schweizer, dessen Mutter sich verschuldet, damit er sich als Kunstmaler in München versuchen kann. Es scheint, als habe die geschickt mit Farbnuancen operierende Autorin mit Johnny eine grüne Henriette geschaffen.

Die Autorin wuchs unweit der Siedlung auf, aus der Uwe Johnson stammt

Ausführlich denkt die Protagonistin über ihre „Johnnywerdung“ nach, malt sich aus, wie ihr Leben als Joana in der Provinz weitergegangen wäre: „Du sahst sie förmlich vor dir, genauso alt wie du und doch viel älter, ein dümmliches Kind an der einen Hand, an der anderen den Kinderwagen, mager wie damals, indifferent und zäh, mit den strähnigen hellblonden Haren und immer noch einem Pflaster auf dem Auge hinter der dickglasigen Brille. Unansehnlichkeit nämlich schützte vor Vermehrung nicht.“

Judith Zander wurde 1980 in Anklam in Vorpommern geboren. Sie wuchs unweit der Siedlung „Min Hüsung“ auf, in der Uwe Johnson seine Kindheit verbrachte. Mit dem „Registrator“ Johnson, wie Marcel Reich-Ranicki ihn nannte, verbindet die Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin viel – zum Beispiel eine hintergründige „Ironie in Schiefhalsigkeit“, mit der Johnson eine seine Hauptfiguren charakterisierte, den Kunsttischler Heinrich Cresspahl aus „Mutmassungen über Jakob“ und der Tetralogie „Jahrestage“.

Songzitate durchziehen den Text, sie sind eine eigene Unterströmung

In „Johnny Ohneland“ ist etwa von Australien die Rede als „Außenstelle angelsächsischer Lebensart“, was eine gewisse Distanz zu Down Under verrät. Außerdem hegt die Anglistin Zander wie Johnson die Liebe zum Plattdeutschen. Die eingestreuten, zum Teil übersetzten englischen Songzitate, die den Text durchziehen, bilden wie schon in der Beatles-Hommage „Dinge die wir heute sagten“ eine ganz eigene metaphorische Unterströmung.

Im Romantitel klingt der glücklose englische König Johann Ohneland alias John Lackland an. Durch missgünstige Umstände verlor der jüngste Bruder von Richard Löwenherz Anfang des 13. Jahrhunderts alle seine Ländereien. Entsprechend gibt Judith Zanders avanciertes und kompromissloses Erzählen alle Gewissheiten auf. Mit „Johnny Ohneland“ hat sie einen Bildungsroman geschrieben, der nicht nur die androgyne Johnny, sondern ebenso die Leserin, den Leser, über Umwege in die Freiheit führt.

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