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Deutsch-deutsche Sprache: Die Wiedervereinigung musste herbeigeredet werden

Anne-Kerstin Tschammer zeigt, wie sich die „Sprache der Einheit“ in und mit dem politischen Prozess herausbildete.

Zu den Erstaunlichkeiten der jüngeren deutschen Geschichte gehört der Bedeutungswandel, den die Einheit hinter sich gebracht hat. Als die alte Bundesrepublik 1989 ihr 40-jähriges Bestehen beging, kam sie fast ganz ohne den Bezug auf sie aus. Die Würdigungen richteten sich in erster Linie auf den Erfolg ihrer Nachkriegsgeschichte, mit dem Grundgesetz als herausragender Errungenschaft (die DDR hatte sie ohnedies längst als Ballast abgeworfen). Umso verblüffender war der Siegeszug, mit dem die Einheit nur wenige Monate später zur Perspektive des großen historischen Geschehens wurde, der mit dem Mauerfall begann. Aus dem Begriff, der an der Börse der politischen Debatten lange zum Muster ohne Wert geworden war, wurde das politische Modell, das dem historischen Wandel die Richtung wies.

Was sich in dem knappen Jahr zwischen Mauerfall und dem 3. Oktober 1990 ereignet hat, wissen wir – und wissen es nicht. Gewiss, die Wiederherstellung der Einheit ist zum großen Narrativ der Bundesrepublik geworden – Mauerfall, der Zusammenbruch der DDR, der das Feld freigab für die Akteure im Osten wie für die aus dem Westen, Wahlen und Abkommen, die die Transformation der DDR einleiteten, während diplomatische Verhandlungen den Prozess international absicherten.

Ein Gedanke wird lebendig

Fehlt nur das verwunderlichste, sinngebende Moment im historischen Wunder: Wie konnte es geschehen, dass der Gedanke der Einheit, der doch eher als scheintot galt, mit einem Mal wieder lebendig und geschichtsmächtig wurde? Dass Einheit und Wiedervereinigung von der Phrase zum Programm wurden?

Dieses Phänomen, ein Schlüsselereignis der deutschen Wendegeschichte, hat Anne-Kerstin Tschammer zum Thema einer Untersuchung gemacht. Ihr Buch „Sprache der Einheit“ will verständlich machen, „wie die Wiedervereinigung und die Form, in der sie erfolgte, durchgesetzt und in ihrer Richtigkeit und Notwendigkeit glaubwürdig gemacht wurde“. Tatsächlich stand ja die Einheit nicht einfach zur Verfügung, als die Stunde der Revision der Nachkriegsordnung in Deutschland und Europa schlug. Sie musste dem großen, ziemlich unverhofften Auf- und Umbruch als politisches Ziel erst eingepflanzt werden. Es hätte auch bei den „föderativen Strukturen“ enden können, die Helmut Kohl noch in seiner Zehn-Punkte- Rede im November 1989 als vorläufiges Ziel setzte. Wofern es nicht überhaupt beim zweistaatlichen Nebeneinander von Bundesrepublik und demokratischer DDR geblieben wäre, über das viele lange nicht hinauszudenken vermochten.

Reden zur Vereinigung

Um diesem Vorgang nahezukommen, unterzieht die Autorin die Reden einer systematischen Analyse, die die Protagonisten des Vereinigungsprozesses an dessen wichtigsten Stationen gehalten haben. Sie tut das intensiv, präpariert ihre Botschaften wie ihre Brüche und gewinnt ihnen neue Dimensionen des Verstehens und Deutens ab. Bei der Dresdener Rede Helmut Kohls zum Beispiel verbindet sie die Beschreibung der dramatische Szene vor der Ruine der Frauenkirche mit der Exegese des Rede – und amalgamiert beides zu dem Ergebnis, dass Kohl „die Gemeinschaft der Deutschen und damit die deutschen Einheit rhetorisch“ herstellte und sich „zu ihrem ersten Repräsentanten“ machte. Es sind solche Beschreibungen, halb analytisch, halb mimetisch, mit denen die Autorin aufspürt, wie sich in diesen wenigen Monaten in Auftritten und Reden die Rhetorik veränderte, in der die Politik sich ausdrückte, und die Einheit immer deutlicher zum Ziel des historischen Prozesses wurde.

Angefangen mit Hans-Dietrich Genschers historischem Auftritt in Prag schlägt die Autorin so einen weiten Bogen durch die rhetorische Landschaft des Vereinigungsprozesses bis zur Einheitsfeier vor dem Reichstag. Als „Befreiung der Sprache“ aus dem Sprachregiment der DDR-Führung begreift sie die ersten Schritte auf diesem Weg. Maueröffnung und politische Auseinandersetzung schufen eine neue, West und Ost übergreifende Öffentlichkeit, in der sich die unterschiedlichen Akteure profilierten und in der nicht zuletzt die westdeutschen Politiker in einem unerwarteten Maße zu Repräsentanten der Ostdeutschen wurden.

Am Ende stand der Mythos

Alles in allem spiegelt sich in der Untersuchung die brodelnde Gemengelage der öffentlichen Auseinandersetzung, in der und mit der sich der historische Prozess in dem Jahr zwischen Mauerfall und Vereinigungsfeier in Richtung Einheit bewegte. Am Ende stand, so die Autorin, der Gründungsmythos des vereinigten Deutschland, Gestalt und Sprache geworden am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, Allerdings keineswegs frei von Spannungen: Die „Sprache der Einheit“ erwies sich auch als „Sprache der Differenz“.

Anne-Kerstin Tschammer geht das große Thema mit schwerer, analytisch-zeithistorischer Ausrüstung an. Ihr Buch, eine beeindruckende Anstrengung, ist eine leicht veränderte Dissertation und verbirgt das nicht. Mit einem methodisch-theoretischen Teil am Anfang – die Themen sind nichts Geringeres als Identität und Repräsentation – opfert es der Wissenschaft, genauer: der Medienwissenschaft, einem vergleichsweise jungen, noch etwas exotischen Fach. Er ist überreich mit Anmerkungen ausgestattet und entgeht nicht immer der Gefahr einer akademisch aufgeplusterten, öfters kurzschlüssigen Metaphorik. Immerhin wagt die Autorin sich mit ihrer Arbeit an ein bedeutendes Thema der deutschen Vereinigungsgeschichte, das noch längst nicht seinen Platz im öffentlichen Bewusstsein gefunden hat: das der politisch-psychologischen Veränderungen im Bewusstsein von Akteuren und Gesellschaft, die die deutsche Vereinigung untergründig mitgetragen haben.

Anne-Kerstin Tschammer: Sprache der Einheit. Repräsentation in der Rhetorik der Wiedervereinigung 1989/90. Springer VS, Wiesbaden 2019. 825 S., 109,99 €.

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