
Berlin: Einsam unter Prunk und Protz
Ein Buch für alle Zeiten: Vor 100 Jahren erschien Karl Schefflers "Berlin – ein Stadtschicksal".
„Die eigentlich wertvollen Ideen“, hat Karl Scheffler 1920 geschrieben, „kommen dem Menschen aus einer sozial nützlichen Arbeit.“ So habe „das Beste über Städtebau der Architekt“ zu sagen. Ein erstaunliches Wort – jedenfalls für Scheffler. Seit Ende der 1890er Jahre lebte er in Berlin, angezogen von der rasant wachsenden Metropole. 1869 in Hamburg geboren und 1951 am Bodensee gestorben, war er der Prototyp dessen, was man früher einen Kunstschriftsteller nannte. Allein schon die Redaktion von „Kunst und Künstler“, die er von 1907 bis zur erzwungenen Einstellung der Zeitschrift 1933 innehatte, stellt eine enorme Leistung dar. Was Scheffler aber darüber hinaus publizierte, berührte von Kunst über Architektur bis Politik die verschiedensten Felder; und gegen Ende seines Lebens kam 1946 noch die umfangreiche Autobiografie „Die fetten und die mageren Jahre“ hinzu.
Erinnert wird Karl Scheffler wegen seines 1910, also vor genau einhundert Jahren veröffentlichten Buches „Berlin – ein Stadtschicksal“. Im Grunde aber ist nur der zum Allerweltszitat verkommene Halbsatz hängengeblieben, Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Der Gedanke allerdings, der dahintersteckt, ist vergessen worden, und zwar ungeachtet der Neuveröffentlichung des Buches 1989. Es geht Scheffler darum, die Rolle Berlins als „Kolonialstadt“ zu charakterisieren, und was dieses Berlin kolonialisierte, ist „der Osten“. Prophetisch ist Schefflers Satz: „Trotz seiner Europäisierung und Amerikanisierung wird Berlin eine östliche Stadt sein, abhängig im wesentlichen von der Geschichte des Ostens.“ Scheffler konnte nicht wissen, auf welche Weise sich diese Ahnung einst erfüllen sollte.
Aber das ist gewissermaßen nur der Rahmengedanke für eine scharfsichtige Abhandlung über Berlin, das „niemals die geistige Reichshauptstadt Deutschlands im höchsten Sinne sein“ könne, wie Scheffler über die „Hauptstadt des neudeutschen Materialismus“ urteilte. Dieses Urteil sorgte seinerzeit für böses Blut. Vom „Willen zur Amerikanisierung“, den der Autor am Protzentum zumal der wilhelminischen Architektur erkannte, mochte man nichts hören.
Scheffler behandelte alle möglichen Aspekte der Stadt und des Urbanen und findet immer wieder streitbare, strittige Urteile. So, wenn er von Paris als einer durch ihre Dichter von Balzac bis Zola bekannten Stadt schwärmt: „Eine Weltkunst kommt uns hier aus einer leidenschaftlich geübten Heimatkunst entgegen.“ Nichts dergleichen in Berlin; und über Fontane, dem er die Fähigkeit abspricht, „das ungeheure Chaos der neuen Großstadt zu schildern“, sagt Scheffler geringschätzig: „Ein zum Romancier gewordener Feuilletonist ist Fontane, nicht ein Dichter der Hauptstadt.“ Döblins Alexanderplatz-Roman war da noch lange nicht geschrieben.
Der gelernte Ornamentzeichner, als Kunst- und Kulturkritiker Autodidakt, hielt sich mit zugespitzten Formulierungen nie zurück, und von heute aus lesen sie sich teils vergangen, teils aber auch verblüffend zeitgemäß. „Ein halbes Dutzend schöner Monumentalbauwerke machen noch keine Stadtarchitektur“, heißt es über den ersten Preußenkönig Friedrich I., der Andreas Schlüter zum Schlossbaumeister berief. Ein „zufällig gefundener genialer Baumeister“ habe „die neuen stolzen Gebäude in ein völlig indifferentes Stadtbild willkürlich hineingebaut“. Über den tieferen Sinn solcher Worte wäre heute ebenso nachzudenken wie über die differenzierte Wertung Schinkels, dem er „den Sieg des Erkennens und der Kritik über die schöpferische Kraft“ zuspricht: „Der Name Schinkel bezeichnet die edelste Seite des ehrgeizigen Repräsentationswillens moderner, vom ursprünglichen Kulturempfinden gelöster Menschen.“ Die von den Bewunderern Schinkels gern verdrängte Tatsache, dass der Neuruppiner Baumeister mit seiner akademisch einwandfreien Verwendung unterschiedlichster Formen von Griechisch bis Gotisch ein machtvoller Mitbegründer jenes Stilgemischs ist, das Scheffler zur Zeit seines Berlin-Buches so anwidern musste, hat dieser scharf erkannt.
Schefflers größter Einsatz galt allerdings der bildenden Kunst, und hierin vor allem dem Impressionismus. Dessen Hauptvertreter in Deutschland, Max Liebermann, widmete er 1906 eine in zahlreichen Auflagen verbreitete Monografie. Doch der Kampf für die künstlerische Moderne, für Werkbund und Sezession, brachte Scheffler in grundsätzliche Gegnerschaft zur Kunstpolitik Kaiser Wilhelms II. – und nach dem Ersten Weltkrieg in Gegensatz zu Expressionismus und Abstraktion. Schefflers Einfluss ging in der Weimarer Republik deutlich zurück. Und wenn er in seinen Memoiren über den von den Verfechtern des „Neuen Bauens“ missachteten Architekten der Umgestaltung der Neuen Wache zum Reichsehrenmal 1931, Heinrich Tessenow, als einen „Einsamen“ schreibt, so hat er sich damit gewiss auch selbst gemeint.
Diese Erinnerungen sind eben wegen ihrer Subjektivität, die in den zwanziger Jahren zum Vorwurf wurde, unverändert lesenswert. Auch die Passagen über die stürmische Entwicklung, aber ebenso den späteren Stillstand der Preußischen Museen sind höchst lehrreich. Scheffler hatte 1921 mit der Streitschrift „Berliner Museumskrieg“ die Versäumnisse benannt, und dies noch zu Lebzeiten Wilhelm von Bodes, dem er bewundernd nachsagte, „ein preußisches Landesmuseum in wenigen Jahrzehnten zum Range eines Weltmuseums erhoben“ zu haben. Gemeint ist der Ausbau der Museumsinsel mit ihrer Krönung in Gestalt des Pergamonmuseums. Doch was Scheffler über den Museums-„General“ rückblickend schreibt, galt letztlich für ihn selbst: Er „passte nicht mehr in die neue Zeit. Seine Epoche war das Kaiserreich gewesen.“
So kritisch Scheffler dem Modernisierungsdrang des Wilhelminismus gegenüberstand, so sehr hat er sich doch zu dessen hellsichtigstem Verkünder gemacht. In seinem Berlin-Buch hat „das Beste über Städtebau“ kein Architekt geschrieben, sondern ein Kritiker par excellence.