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Bestseller in den Nullerjahren: Harry Potter vor Harry Potter

Harry Potter vor Harry Potter vor Dan Brown ... Ansonsten ist nichts passiert bei den Büchern in den Nullerjahren – was traurig ist, aber natürlich überhaupt nicht stimmt.

In Zeiten verstärkten Rückblicksirrsinns bleibt es nicht aus, dass nicht nur die Top-Bücher des vergangenen Jahres gelistet werden, sondern gleich die Bestseller des letzten Jahrzehnts. Dürfte mancher Rückblick der nächsten Tage noch mit einer Überraschung aufwarten, gibt es bei aller Chronistenpflicht vielleicht noch die eine oder andere überraschende Perspektive – ja, hörten nicht die achtziger Jahre offiziell erst 1995 auf, als Christian Krachts Roman „Faserland“ erschien? Waren die neunziger Jahre nicht schon die Blaupause für die nuller Jahre? Und werden die achtziger Jahre in den zehner Jahren nicht genauso ihr Unwesen treiben wie in den nuller Jahren? –, so sind nun leider die Bestseller des letzten Jahrzehnts, die diese Woche der „Spiegel“ und das Fachmagazin „buchreport“ ermittelt haben, eine einzige Ödnis. Will heißen: komplett überraschungsfrei.

Jeder Leser, Buchhändler oder Verlagsangestellte hätte auch ohne diese Liste sofort sagen können, wer hier ganz oben steht: Joanne K. Rowlings Harry Potter vor Harry Potter vor Harry Potter, gefolgt von Harry Potter, Harry Potter und Harry Potter, Stephenie Meyer mit ihren „Bis(s)“-Büchern (drei an der Zahl), Cornelia Funke mit ihren „Tinten“-Büchern (auch drei) und Dan Brown mit seinen Mittelalterkrimis (zwei).

Der Rest verteilt sich auf Charlotte Roche, Daniel Kehlmann, Frank Schätzing, Paolo Coelho, Ken Follett und Francois Lelord. Bei den Sachbüchern ist zumindest die Autorenvielfalt größer, da gibt es keine Doppelungen oder Sechsfachnennungen. Trotzdem war auch hier der Einlauf Hape Kerkeling vor Michael Moore vor Richard David Precht absehbar. Mehr ist nicht passiert in den nuller Jahren auf dem Buchmarkt – was traurig ist, aber natürlich überhaupt nicht stimmt. Denn hinreichend analysiert ist das Phänomen, dass ein Bestseller irgendwann zu einem Selbstläufer wird und sich vom Rest des Buchmarkts auflagentechnisch komplett abkoppelt, dass gerade in den Wochen vor Weihnachten die Bestsellerliste keine Bewegung mehr kennt, dass alle Leute dasselbe lesen wollen, weil ja alle auch dasselbe tragen oder essen wollen (oder gerät da jetzt was durcheinander?). Und wenn alle Leute dasselbe lesen wollen und darüber hinaus die Jugend abgeholt werden soll, bieten sich Bücher an, die alle Altersgruppen lesen können, sogenannte All-age-Romane wie „Harry Potter“ oder die „Tinten“-Trilogie.

Und der analoge Buchladen der Zukunft, in der Regel der irgendeiner x-beliebigen Buchhandelskette, sieht dementsprechend aus: hier ein Stapel mit den Bestsellern des Jahres, dort einer mit den Bestsellern des Jahrzehnts, hier ein paar Klassiker, dort ein paar Neuerscheinungen, und der Rest kann bestellt werden.

Der Rest aber ist tatsächlich ein sehr großer und sehr vielfältiger. Dafür sorgen die Verlage jede Saison aufs Neue, davon künden die Literaturteile der Printmedien. Darum kümmern sich vor allem jedoch die Buchhändler. Solche, die mit Leib und Seele bei den Büchern sind, die Sendungsbewusstsein haben, die dem Druck der Ketten tapfer standhalten. Schön zu beobachten war das vor Weihnachten wieder einmal in einer Buchhandlung in Prenzlauer Berg. Dort pries die Chefin des Ladens einer Kundin einen Roman von David Benioff an (David Benioff?), „Stadt der Diebe“. Einer ihrer Angestellten gesellte sich dazu, stellte einen Roman von Tom McNab vor (Tom McNab?), „Trans-Amerika“, und eine weitere Kraft warf sich dann gegenüber der Kundin für den letzten Roman von Martina Hefter in die Bresche (Martina Hefter?), „Die Küsten der Berge“. Alles Bücher, die 2009 selbst vom Literatur-Feuilleton eher stiefmütterlich bis gar nicht behandelt wurden.

Hier lesen die Buchhändler noch selbst, hier können sie noch leichteren und besseren Herzens empfehlen, ohne einen einzigen Blick in die Bestsellerlisten zu werfen. Bestseller müssen nicht mehr empfohlen zu werden. Und kein Prophet muss sein, wer sieht, dass die Hälfte der Nuller-Jahre-Bestseller auch 2020 in den Charts der zehner Jahre stehen werden. Harry Potter vor Harry Potter vor Dan Brown vor, na, Sie wissen schon. Gerrit Bartels

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