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Zerstörtes Land: Der Krieg tobt heftiger denn je. Wer kann, versucht zu entkommen.

© imago/ZUMA Press

Terror-Experte Neumann zum IS: Propaganda der Tat

Deutschland ist für den Kampf gegen den Terror schlecht gewappnet, schreibt Peter Neumann in seinem neuen Buch. Eine Rezension

Von Frank Jansen

Die Anschläge in Paris waren keine drei Wochen her, da wurden schockierende Zahlen zum weltweiten Zustrom von Dschihadisten in die Konfliktregion Syrien/Irak bekannt. Ende Januar meldete in London das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), mehr als 20 000 ausländische Freiwillige hätten sich dem „Islamischen Staat“ (IS) und weiteren militanten sunnitischen Gruppierungen angeschlossen. Damit werde sogar die Zahl der fremden Kämpfer übertroffen, die in den 1980er Jahren nach Afghanistan geströmt waren, um den Mudschaheddin im Krieg gegen die Rote Armee zu helfen. Und das ICSR listete detailliert auf, aus welchen Ländern Islamisten nach Syrien und Irak gereist waren. Die meisten, etwa 3000, kamen aus Tunesien. Aus Westeuropa waren es bis zum Januar bereits 4000. Tendenz steigend.

„Akten extremer Gewalt“

Die Studie basierte auf Recherchen, die der Leiter des ICSR, der aus Berlin stammende Peter Neumann, und sein Team unternommen hatten. Neumann, einst Journalist in Berlin, ist heute Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College; das ICSR ist dort angesiedelt. Mit seinen Forschungen zu Radikalisierung und Terrorismus konnte das Institut bereits mehrfach Akzente setzen. Neumann hat nun, auch auf der Basis von Interviews mit ehemaligen Kämpfern in Somalia und der Türkei, eine Art Zwischenbilanz zum Phänomen des Dschihadismus gezogen. Herausgekommen ist ein gut lesbares, informatives Handbuch, das die laut Neumann „fünfte Welle“ des Terrorismus beschreibt – und die unzureichende Reaktion des Westens, vor allem der Bundesrepublik, darauf.

Als Leitmotiv nicht staatlicher Terroristen, beginnend bei Anarchisten im 19. Jahrhundert über die „Rote Armee Fraktion“ bis zu den Dschihadisten, nennt Neumann die „Propaganda der Tat“. Sei es das Attentat auf einen König oder der Angriff vom 11. September 2001 – mit aufsehenerregender Gewalt soll der Feind in Angst und Schrecken versetzt werden. Nur selten gelingt militanten Bewegungen jedoch dann auch der Umsturz. Eine, die es zumindest vorläufig geschafft hat, ist der „Islamische Staat“. Ein wesentlicher Grund für den Leiter des Forschungsinstituts, von „neuen Dschihadisten“ zu sprechen.

Neumann bescheinigt der Terrormiliz den Erfolg der Strategie, erst mit Anschlägen und weiteren, bedrohlichen Aktionen „totales Chaos“ zu produzieren, um dann auf den Trümmern des alten Staates eine „totale Ordnung“ zu etablieren. Das hat in den Teilen Syriens und Iraks, die der IS erobern konnte, funktioniert. Neumann prophezeit allerdings, dass der IS trotz seines drakonischen Regimes langfristig die wirtschaftlichen Probleme in den okkupierten Territorien nicht beherrschen kann.

Zwiespältig ist für den IS aus Sicht des Experten auch die Rolle der ausländischen Dschihadisten. Diese Kämpfer, Neumann schätzt ihren Anteil auf „mindestens 40 Prozent der Kernorganisation“, hätten weit stärker als lokale Anhänger eine ideologische Agenda. Die Ausländer „kämpfen nicht für Familie, Freunde oder Dorf, sondern für die abstrakte Idee der Umma – einer weltweiten Gemeinschaft der Muslime“, schreibt Neumann. Wie schon in vergangenen Konflikten seien diese Dschihadisten schwerer von Kompromissen zu überzeugen und beteiligten sich häufiger an „Akten extremer Gewalt“. Für Neumann sind sie der „gefährlichste Teil der Organisation“.

Der Leiter des ICSR fordert eine „nationale Präventionsstrategie“

Die Prognosen, die der Chef des ICSR anbietet, sind düster, nicht nur wegen der Schlagkraft des „Islamischen Staates“. Al Qaida, vom IS mit der Ausrufung des „Kalifats“ überflügelt, habe „ein Interesse daran, durch spektakuläre Anschläge im Westen sein Profil zu stärken“. Und nicht nur wegen des Konkurrenzkampfs werde Europa sich, schätzt Neumann, eine ganze Generation lang, also etwa 30 Jahre lang, mit der neuen Welle des Terrorismus befassen müssen.

Die Lage sei nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil die Anzahl der Dschihadisten viel höher ist als früher und viele Kämpfer noch sehr jung sind. Schon die Anfang des Jahres in Paris und Kopenhagen verübten Anschläge seien „erste, sehr dramatische Hinweise darauf, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf Europas Straßen abspielen wird“, warnt Neumann. Mehr als eine „Strategie der Eindämmung“ hält er in absehbarer Zeit nicht für möglich. Gleichzeitig warnt er davor, Figuren wie den syrischen Diktator Baschar al Assad als Verbündete im Kampf gegen den Terror zu betrachten.

Peter Neumann: Die neuen Dschihadisten. Econ Verlag, München 2015. 224 Seiten, 16,99 Euro.
Peter Neumann: Die neuen Dschihadisten. Econ Verlag, München 2015. 224 Seiten, 16,99 Euro.

© Econ Verlag

Der Bundesrepublik hält Neumann gravierende Versäumnisse vor: Insbesondere bei der Prävention, also der Sensibilisierung junger Menschen für das Thema Extremismus, aber auch bei der Ansprache von Personen, die bereits radikalisiert sind, bei der finanziellen und personellen Ausstattung von Aussteigerprogrammen und bei der Kooperation mit muslimischem Gemeinschaften – denen Neumann allerdings auch Defizite in der Wahrnehmung der „Lebenswirklichkeit junger Muslime“ bescheinigt.

Der Leiter des ICSR fordert eine „nationale Präventionsstrategie“, wie sie die Niederlande, Großbritannien, Norwegen, Dänemark, Schweden, Australien, Kanada und die USA bereits formulierten. Deutschland habe sich dem Ansatz „bislang komplett verweigert“, schreibt Neumann. Dieser Fehler werde sich in den Jahren der „fünften Welle“ des Terrorismus rächen.

Peter Neumann: Die neuen Dschihadisten. Econ Verlag, München 2015. 224 Seiten, 16,99 Euro.

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