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Unermüdlich. Heidi und Rolf Abderhalden bei der Verleihung der Goethe-Medaillen am Dienstag in Weimar.

© Jens Kalaene/dpa

Mapa Teatro: Kolumbianisches Theaterkollektiv bekommt Goethe-Medaille

Ohne Karneval keine Revolution: Das kolumbianische Mapa Teatro wird mit der Goethe-Medaille geehrt. Schriftsteller Deniz Utlu gratuliert.

Wer sich fragt, wo die Ikonen der Revolution alle hin sind, findet sie vielleicht zwischen Fiktion und Wirklichkeit in einer Arbeit von Mapa Teatro. „Willkommen, alter weißer Mann“, so begrüßt in dem Stück „La Despedida“ (Der Abschied) ein Schamane Karl Marx im Dschungel, „ich habe auf dich gewartet! Ganze zwei Jahrhunderte hat dich mein Lied geleitet. Bis hierher. Zu mir, dem Geist dieses Waldes.“ Marx, als wollte er ein Missverständnis ausräumen, stellt sich vor: „Gestatten: Karl Marx aus den Wäldern um Trier. Hier sollte eine Abschiedsparty stattfinden. Wo sind alle hin?“ Der Schamane antwortet: „Sie tanzen auf den Ruinen.“

Entstanden ist das Stück als letztes Kapitel einer Erkundung von Gewalt und Festlichkeit unter dem Titel „Anatomía de la Violencia en Colombia“ („Anatomie der Gewalt in Kolumbien“). Trotz des großen Motivs der Revolution findet hier aber kein Rückzug auf die Dialektik statt, eher ein Rimbaud’sches Manöver, bereit für die Zeit in der Hölle, Abschied nehmend von dem Irrglauben, Widersprüche ließen sich definitiv auflösen. Der lange Zeitraum – sieben Jahre –, den Heidi und Rolf Abderhalden mit der Arbeit an diesem Thema verbracht haben, beweist ihre Hartnäckigkeit. Unermüdlich in der Auseinandersetzung mit einem Sujet, dessen Wesensmerkmal die Zermürbung ist: Gewalt.

Brachfläche wird zur Bühne

Jetzt haben sie die Goethe-Medaille erhalten. Ein Zeichen vielleicht auch gegen die Verbiegung von Kultur als Mittel nationaler oder identitärer Abgrenzung. Goethes Begriff der „Weltliteratur“ meint Literatur oder Kunst, die aus einem kosmopolitischen Geist heraus entsteht. Mit der Verleihung der Goethe-Medaille an Heidi und Rolf Abderhalden wird genau dieser kosmopolitische Geist gewürdigt: Ihr Universalismus bedeutet nie eine Abkehr vom Lokalen. Im Gegenteil: Sie finden zu ihm durch radikales und präzises Vordringen in die Abgründe der Gesellschaft, in der sie sozialisiert wurden. Indem sie der Entmenschlichung vor Ort ins Auge sehen, finden sie zum genuin Menschlichen.

Nach einer Ausbildung in Europa gründen sie ihr Theaterkollektiv Mapa Teatro 1984 in Paris. Bereits 1986 zieht es sie zurück nach Kolumbien, das Land, in dem sie in den sechziger Jahren als Kinder eines Schweizer Einwanderers und einer kolumbianischen Mutter geboren wurden. Ihre transdisziplinäre Methode entwickeln sie früh, wobei es nicht um ein Nebeneinander der verschiedenen Formen geht, sondern um die Überschreitung der Formgrenzen. In „Testigo de las Ruinas“ („Zeuge der Ruinen“), eine Arbeit von 2005, verschwindet auch die Grenze zwischen Publikum und Darsteller: Wie Prometheus tragen sie Licht zu den Menschen – auf einer Brachfläche, auf der einmal deren Häuser standen, wo einmal deren Leben stattfand. Das gesamte Viertel wurde von der Stadt abgerissen. Die Brachfläche wird zur Bühne.

Ins entblößte Gesicht schauen

Auf einer großen Leinwand, die dort aufgestellt wird, spielt niemand Geringeres den Retter von Prometheus, jenen Herakles, als ein etwa neunjähriger Junge aus eben diesem Viertel. Auch er befindet sich in Festkleidung unter den schauspielernden Bewohnerinnen und Bewohnern des eliminierten Viertels und betrachtet sich selbst wie in einem Kino des Augenblicks.

In „Los Incontados“ („Die Unerzählten“) – ebenfalls ein Stück aus ihrem Zyklus „Anatomie der Gewalt in Kolumbien“ – warten ein Kind und ein Zauberer in einem bürgerlichen Wohnzimmer auf ein Fest. Ein Fest, zu dem es nie kommt. Während des Wartens verkündet eine Stimme: „Der Karneval muss beendet werden, damit die Revolution beginnt.“ Ein Satz, der sich aufspannt auf der Theaterbühne. Werden doch gerade hier Masken verwendet, nicht um zu verbergen, sondern im Gegenteil, um zu zeigen, was anders nicht darstellbar zu sein scheint. So verkehrt sich der Satz ins Gegenteil: ohne Maske keine Demaskierung, ohne Karneval keine Revolution. Trotzdem bleibt auch die ursprüngliche Bedeutung erhalten: Wir müssen uns ins entblößte Gesicht schauen und sehen, wer wir sind und was aus uns geworden ist, um die politischen Verhältnisse zu ändern.

Revolutionstourismus - ein Loop der Geschichte

Ein postkoloniales Motiv kommt hinzu: Die weiße Maske auf dem schwarzen Gesicht. Diese Schlüsselbeobachtung Frantz Fanons, einer der Begründer postkolonialer Theorie, in seinem Buch „Schwarze Haut, weiße Maske“. Das System weißer Vorherrschaft verlangt von dem schwarzen Subjekt, eine weiße Maske zu tragen, sich seiner Unterwerfung also zu beugen und sein eigenes Antlitz zugunsten des ihm diktierten Regelwerks zu leugnen. Am Ende des Schlussmonologes der „Unerzählten“ nimmt der schwarze Schauspieler, während er die Schlussworte noch spricht, seine weiße Maske ab. Das Kind steht mittlerweile außerhalb des eigenen Wohnzimmers und betrachtet ihn: Also doch Revolution?

„La Despedida“, das letzte Stück im Gewalt-Zyklus, entsteht 2016, im Jahr des Friedensvertrags in Kolumbien, der den 52-jährigen Bürgerkrieg beenden soll. Das Guerilla-Lager „El Borugo“ wird zu einem Museum. Für Mapa Teatro ein Loop in der Geschichte: Nach dem Indigenen-Tourismus, jetzt also – im selben Wald – ein Revolutionstourismus. La Despedida erzählt von Soldaten, die in das Museum gewordene Guerilla-Lager zurückkehren, um ihre Geschichte und die der Guerilla als Theaterstück zu inszenieren. In der Fiktion wird das Lager zum Ort einer großen Abschiedsparty, wo die Ikonen Abschied nehmen von der Revolution, zu der es nie kam.

Das Leben nach der Katastrophe scheint zeitlos zu sein

Auf dem Weg zum Abschied von unseren Abstraktionen treffen wir auf den Geist des Waldes, der dort seit Anbeginn der Zeit auf uns wartet. Und während wir tanzen auf der großen Abschiedsparty, bröckeln bereits die Ruinen unserer Existenz. Wir sind der weiße Mann, den der Schamane erwartet hat. Das Leben nach der Katastrophe scheint zeitlos zu sein.

Das Laboratorium Mapa Teatro untersucht die kolumbianische Katastrophe. Die Muster unter den Linsen ihrer Mikroskope sind gültig für uns alle. Niemand kann sich die Position des distanzierten Beobachters herausnehmen. Am Ende sitzen wir alle im selben Dschungel. Die Simultanität von Fest und Gewalt wird zu einem Merkmal unserer Zeit. Die Strände, die gleichzeitig Friedhof und Sonnenbank werden. Die Sommer, in denen die Wälder verbrannt und bewandert werden. Eine Welt voller Antithesen, auf die Heidi und Rolf Abderhalden reagieren, indem sie das Experiment zu einem Wesensbestandteil ihrer Arbeit machen. Eindeutige Antworten schließen sie dadurch aus. Kein Vorwand, sich nicht zu positionieren. Im Gegenteil, die Fragen, die sie stellen, sind immer die Suche nach einer Position angesichts unauflösbarer Widersprüche.

In Weimar sind Heidi und Rolf Abderhalden, die Gründer des Mapa Teatro in Bogotá, mit der Goethe–Medaille ausgezeichnet worden. Die hier leicht gekürzte Laudatio hielt der Berliner Schriftsteller Deniz Utlu. Die Auszeichnung ging außerdem an die schweizerisch-brasilianische Fotografin und Menschenrechtlerin Claudia Andujar und den ungarischen Komponisten und Dirigenten Péter Eötvös.

Deniz Utlu

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