
© Roman März
Mein fremder Vater: Die großartige Fotografie von Abdulhamid Kircher
Mit „Rotting from Within“ gelang dem jungen Künstler eine Abschlussarbeit für die Universität San Diego, die ihn in die Galerie Carlier Gebauer katapultiert hat.
Stand:
Es ist ein langer Weg von Los Angeles nach Berlin. Abdulhamid Kircher legt ihn inzwischen regelmäßig zurück, der gebürtige Berliner pendelt zwischen den Kontinenten. Aber auch zwischen den Welten, physisch wie mental. In LA ist er aufgewachsen, seine Mutter zog dorthin, als er klein war. Sie floh, trifft es genauer: Ihr Mann bedrohte sie, der Umzug weit weg von Neukölln war ein Ausweg.
Eine explosive Geschichte
Abdulhamid Kircher ist schmerzhaft offen, wenn es um die Geschichte seiner kleinen, implodierten Familie geht. Alles andere wäre absurd, denn der junge Künstler visualisiert die Eindrücke seiner persönlichen Reise in Gegenwart der Vergangenheit mit voller Härte in seinen Bildern. Wie ein Wimmelbild hängt die fotografische Serie „Rotting from Within“ an einer Wand der Galerie Carlier Gebauer – eine Ausnahme in jeder Hinsicht.
Kircher, Ende zwanzig, ist eigentlich kein Künstler für die Galerie. Zu jung, zu unbekannt, seinen Abschluss an der University of California San Diego hat er 2022 gemacht. Doch ein Blick auf die schier überwältigenden Eindrücke von „Rotting from Within“ macht sofort nachvollziehbar, weshalb Galeristin Marie-Blanche Carlier ihm nach einem Treffen in New York gleich eine Ausstellung zugesagt hat. Man kann kaum aufhören, Kirchers Tableau zu studieren, das er stets ortsspezifisch aus eigenen Aufnahmen, Archivbildern und kleinen Artefakten präzise arrangiert.
Verstörend und zärtlich
Manche der Sujets sind unvermittelt und verstörend, andere voll Zuwendung und Zärtlichkeit. Es ist, als würde man dem Fotografen live durch die fehlenden Kapitel seines Lebens folgen, die er seit 2014 sukzessive zu ergänzen versucht. Wie war die Zeit in Berlin vor seinem achten Lebensjahr? Wie hat der Vater nach ihrer Flucht in die Staaten gelebt, und wer überhaupt ist dieser Mann, zu dem Abdulhamid Kircher über viele Jahre bloß ein distanziertes Verhältnis hatte? Der Künstler geht auf Spurensuche, sein Mittel ist die Kamera, die festhält, was er sieht. Und noch einiges mehr.

© Galerie carlier gebauer
Alles kreist um den Vater
Man erkennt einen Blutegel an einem Finger oder im Laubengang hängende Wäsche. Jemand scheint zärtlich einen Säugling im Arm zu halten, tatsächlich sind es die Innereien eines Tiers. Ein geschlachtetes Schaf auf einem anderen Bild erklärt das Motiv, Abdulhamid Kircher reiste in die Türkei zu seinen Verwandten väterlicherseits, um mehr über seine eigene Herkunft, vor allem aber über die jenes Menschen zu erfahren, um die sich „Rotting from Within“ die ganze Zeit dreht. Auch die Biografie des Vaters wird schonungslos ausgebreitet. Er hat lange gedealt und saß wegen versuchten Mordes im Gefängnis, was er heute macht, wird nicht ganz klar.
Fotos aus dem Krankenhaus
Sein Sohn umkreist ihn unaufhörlich mit der Kamera, fotografiert den Mann schlafend, lachend mit Freundin, im Krankenhaus oder beim Feiern – als könnten seine unzähligen Ansichten zugleich das Innerste sichtbar machen. Trotz aller Offenheit – oder Kapitulation vor dem obessiven Bildermacher – gibt Kirchers Vater am Ende wenig von seinen Gefühlen preis.
In einem Raum der Galerie läuft der dokumentarische Film „Noch ein Kind – Still a Kid“ von Maxi Hachem. Sie hat die Mitglieder der Familie eine Zeit lang begleitet, lässt sie allein oder im Dialog reden und fängt nebenbei ein Berlin ein, das dem kulturaffinen Galeriepublikum überwiegend fremd ist. Ohne Voyeurismus, die Nähe zu den Darstellern hat etwas von einem Privileg. Vor allem jedoch erklärt der Film den Titel jener Serie, die Kirchers Abschlussarbeit an der Universität war.
„Rotting from Within“ ist der Versuch, ein Trauma über Generationen sichtbar zu machen. Eine migrantische Erfahrung, die mit Verlusten einhergeht und zugleich als Argument herhalten muss, wann immer dem Vater etwas nicht gelingt. Wortreich macht er andere für seine biografischen Stürze verantwortlich, der Druck von außen ist ein ewiges Argument. Auch das Verhältnis zum Sohn verwirrt, am Ende verdankt Abdulhamid Kircher ihm eigentlich alles.
Prägende Jahre für den Sohn
Fakten und Ausflüchte werden in den Diskussionen so fest miteinander verwoben, dass der Sohn die Stränge unmöglich entwirren kann. Dabei ging es Kircher nicht zuletzt um Klärung der eigenen Situation: Wie weit er Teil jener patriarchalen Erfahrungen ist, und was ihm der Vater in den frühen, prägenden Jahren vermittelt hat.
Es ist ein endloses Experiment. So vielgestaltig und (im Positiven) verzettelt wie die Präsentation in der Galerie Carlier Gebauer. Abdulhamid Kircher schafft eine kongeniale Abbildung jener Eindrücke, die ihn weiter beschäftigen werden. Das Manifest einer chaotischen Beziehung, die auch in einem selbst lange nachhallt.
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