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Paar mit Griechenland-Fahne

© dpa

Griechenland-Krise: Menschen, die sich wie Tote durch die Straßen schleppen

Die Griechenland-Krise macht vor allem der Bevölkerung zu schaffen. Unsere Autorin überlegt deshalb mit ihrer Familie wieder zurück nach Deutschland zu ziehen. Ob sie sich dann freier fühlen wird, weiß sie nicht.

„Mir war immer, als gleiche das Leben einer Eisenbahnreise“, schreibt Gaito Gasdanow. „Diese Zögerlichkeit des persönlichen Daseins, umschlossen von ungestümer äußerer Bewegung, diese scheinbare Gefahrlosigkeit, diese Illusion von Dauer. Und dann, in einem einzigen überraschenden Moment, eine einstürzende Brücke oder ein nicht festgeschraubtes Gleis.“

In Griechenland sind in letzter Zeit viele Brücken eingestürzt. Während die nicht festgeschraubten Gleise auseinanderfallen, versuche ich, mein Leben weiterzuleben – zu essen, zu arbeiten, meiner Familie Kraft zu geben und von ihr Kraft zu bekommen. Aber abends vorm Einschlafen mache ich das Einzige, was mir Trost bringt: Ich lese Bücher. Ich lese ganz langsam, wie ein Kind an einem Bonbon lutscht. Und ich tue es bewusst – um mich von den Fernsehbildern des Tages zu befreien, den Analysen, dem ganzen Getöse.

Griechenland ringt mit dem Tod - Europa schaut zu

In dem metaphysischen Roman Noir „Das Phantom des Alexander Wolf“ tötet Gasdanows Erzähler im russischen Bürgerkrieg in der ukrainischen Steppe einen Reiter. Jahre später begegnet er während der Zwischenkriegszeit in Paris diesem Toten. Offenbar hatte er ihn nicht genügend getötet und nur verletzt. Der Mann lebte weiter und schrieb die Geschichte seines Beinahe-Todes in einer Novelle auf, die nun der reuige Mörder liest. Opfer und Täter sind verwirrt, jeder glaubt, er sei der einzige Überlebende. Ist das vielleicht eine gute Metapher für ein Griechenland, das mit dem Tode ringt, und ein Europa, das mit geweiteten Augen darauf schaut?

Ich habe mich mit Alexander Wolf identifiziert, dem lebendig-toten Autor. Dieser Tage habe ich in Athen viele Wolfs gesehen, die sich wie Tote durch die Straßen schleppen, in Warteschlangen vor Banken stehen, einen zusammengefalteten Geldschein in die Börse stecken, als sei er kein Geld, sondern eine Rettungsbotschaft. Ich habe auch gesehen, wie sie ihren Platz einem anderen überlassen, der ihn nötiger braucht, habe gesehen, wie sie Witze machen oder stoisch sind wie die Philosophen der Antike.

Und ich habe viele Geschichten gehört, die ich gerne aufschreiben würde, wenn ich die Stimmung und Hingabe wiederfinden könnte, die man zum Geschichtenschreiben braucht: etwa von dem Paar, das zur Hochzeitsreise nach New York flog und den ganzen Tag nur auf einer kleinen Bank saß, weil die Kreditkarten nicht akzeptiert wurden. Oder über die Flugzeuge, die zwischen Athen und Frankfurt hin- und herfliegen, um die Hunderter und Fünfziger zu „stückeln“, sie in Zwanziger für die griechischen Bankautomaten zu wechseln.

Geschichte einer Spaltung

Gasdanows Geschichte ist auch aus einem weiteren Grund erschütternd: Es ist die Geschichte eines Bürgerkriegs, einer Spaltung. In der Literatur wie im Leben resultiert die Handlung, der Fortgang – ja, erlauben Sie mir, optimistisch zu sein, der Fortgang – aus dem Konflikt. Das haben wir in den letzten Tagen in Griechenland und in ganz Europa erlebt. National ist das Land gespalten in die Anhänger des „Ja“ und des „Nein“. Europa ist ebenfalls gespalten: in die Europäer, die für das „Nein“ auf die Straße gingen, weil sie in den Griechen ihr revolutionäres Ich sehen, und in die Marktföderalisten, die in imperativem Ton ein „Ja“ forderten.

Beide Haltungen habe ich mit einer gewissen Distanz betrachtet, wie es dem Schriftsteller geziemt. In der Auseinandersetzung sah ich das uralte Kriegsspiel, das der Mensch spielt, dieses Fußballdenken des Gefühls, dem man verfällt, um irgendwo dazuzugehören und die Interessen seiner Mannschaft zu verteidigen. Ich habe Texte gelesen, die blind vor Hass waren gegenüber den „Bösen“ der anderen Seite. In allen möglichen europäischen Sprachen verfasst, randvoll mit Panik und dem Bedürfnis, von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen.

Man muss nur die zweierlei Sprachen zum Referendum im Inland und Ausland betrachten. Die griechische Regierung beharrte darauf, die Volksbefragung beziehe sich auf die Reformvorschläge der Institutionen, die aber gar keine Geltung mehr hatten. Europa drohte, mit einem „Nein“ zum Referendum sei der Grexit besiegelt. Beide Seiten hatten ein großes Problem mit der Bedeutung des Referendums.

Die Wut kommt von ganz allein

Wir leben im Lärm der Massenmedien. Trotzdem brauchen wir keine Hilfe, um endgültig in Wut zu geraten: Wir haben die social media und unsere private Agenda. Sobald ich in der griechischen Presse einen Artikel veröffentliche, der als regierungsfeindlich angesehen wird, folgt von den Andersdenkenden die kindische Reaktion, sie würden meine Bücher jetzt nicht mehr lesen. In Deutschland kann ich nicht gegen Tsipras schreiben, das macht meine Hand nicht mit. Ich bin kein Chamäleon, aber ich ertappe mich selber dabei, dass ich mich verhalte wie die Politiker, die jedes Mal eine andere Sprache gebrauchen, wenn sie vor der Partei sprechen, vor dem Parlament oder vor allen Menschen.

Warum das so ist? Ich habe von 2004 bis 2010 in Berlin gelebt und erinnere mich noch gut an das erste Krisenjahr. Eine Nachbarin hatte an die Tür geklopft und mir einen völlig naiven Artikel gegeben, der so anfing: „Liebe Griechen, warum bezahlt ihr denn eure Steuern nicht?“ Während dieser Zeit in Deutschland wurde ich griechischer denn je, während in Griechenland mein europafreundliches Ich gedieh. Das passiert allen, die die Identität nicht als schlichte Gleichung ansehen: Wir sind viele Dinge zugleich. Die nationale Identität kann zu einer gewaltigen Last werden, wenn sie nicht durch eine breitere Gemeinschaft gefiltert wird, die an dieselben Werte glaubt.

Wann wird Europa endlich zu einer Idee?

Was sind denn die Werte von Europa, frage ich mich dieser Tage. Jenseits der neoliberalen Politik – die wirklichen europäischen Werte? Warum sind die Griechen am Verhandlungstisch so schnöselig aufgetreten und die Deutschen so überheblich? Wann hört Europa auf, ein lobotomiertes ökonomisches Herrschaftsgebiet zu sein, und wird endlich zu einer Idee?

Während dieser ganzen Zeit beobachte ich meine 13-jährige Tochter, die in Berlin aufgewachsen ist und wie ein kleines Tier darum kämpft, einmal in der einen und einmal in der anderen Identität den Anker zu werfen. „Mama, gehen wir nach Deutschland zurück, wenn sich die Situation verschlimmert?“, fragt sie voller Angst. Ich frage zurück: „Was möchtest du denn?“ „Ich weiß nicht“, sagt sie nach einigem Nachdenken, „in Berlin fühle ich mich freier“. Also sagt sie, dass wir fern von unserer Identität freier sind, vollständiger. Aber auch mein Mann ist mit seinem deutschen Urgroßvater zerrissen zwischen dem griechischen und dem deutschen Ich. Mit den deutschen Freunden redet er anders als mit den Griechen. Seine Schizophrenie ist nur menschlich: Wenn die anderen versuchen, einen in ein Bild zu pressen, ist der einzige Gedanke, diese Schablone zu sprengen.

Kampf ums Dasein

Die griechische Isolation, die Isolation generell ist für niemanden vorteilhaft. Den jetzt in Athen so oft gebrauchten Worten – Würde, Stolz, Demütigung –, Worten von rhetorischer Schwere und unerträglichem Gefühlsüberschwang, ziehe ich das Wort Übereinkunft vor. Ich will es mit den Worten des Russischlehrers bei Gasdanow sagen: „Ihr tretet ins Leben, und ihr müsst euch an dem beteiligen, was Kampf ums Dasein genannt wird. Es gibt ihn, grob gesagt, in drei Formen: den Kampf bis zur Niederlage, den Kampf bis zur Zerstörung und den Kampf bis zur Übereinkunft. Ihr seid jung und voller Kraft, euch lockt natürlich die erste Form. Aber denkt immer daran: Die humanste und vorteilhafteste Form ist der Kampf bis zur Übereinkunft.“

Übereinkunft, Kompromiss: ein kühles, redliches Wort, das einige Geleise festschrauben kann.

Amanda Michalopoulou, geb. 1966, lebt als Schriftstellerin in Athen. Sie schrieb bislang sieben Romane, u. a. „Oktopusgarten“, Erzählungen und Kinderbücher. – Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand.

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