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Auf dem Weg nach Europa - mit Zwischenstopp in Libyen oder Algerien. Migranten aus der Republik Niger in Agadez.

© picture alliance / dpa

Migrationspolitik: Ausweitung der Filterzone

„Sortiermaschinen“: Der Soziologe Steffen Mau untersucht den veränderten Charakter von Grenzen im 21. Jahrhundert.

Nach dem Fall der Mauer standen die Zeichen auf Entgrenzung. Die Globalisierung schritt voran, das Kapital erschloss neue Märkte, die EU erweiterte sich, das Internet beschleunigte den Datenverkehr, Kohorten von Intellektuellen arbeiteten sich daran ab, überkommene Dichotomien aufzulösen. Anstatt die Welt in Gegensätze einzuteilen, sie zu parzellieren, erschien sie nun als großer Zwischenbereich, in dem Waren, Informationen und Personen immer freier zirkulierten. Wirtschaftsliberale und Linke träumten bereits gemeinsamen von einer Welt ganze ohne Grenzen. Der 11. September, die Flüchtlingskrise von 2015 und vor allem die jüngste Corona-Krise dürften sie wachgerüttelt haben.

„Borders are back“ ist das erste Kapitel in Steffen Maus Buch „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ überschrieben, und schon auf den ersten Seiten wird klar: Sie waren eigentlich nie weg. Dadurch, dass in den letzten Jahrzehnten immer mehr Menschen ihren Beweungsradius immer weiter ausgedehnt haben, nahm die Wichtigkeit von Grenzen sogar zu, als Instrumente des globalen Mobilitätsmanagements. Grenzregime arbeiten damit auch nicht gegen die Globalisierung, so Maus wichtigste These: „Andersrum wird ein Schuh draus: Weil es Globalisierung gibt, gewinnen Grenzen an Bedeutung, werden sukzessive aufgewertet und als Sortiermaschinen gebraucht.“

[Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2021. 189 S., 14,95 €.]

Mit dem Begriff „Sortiermaschinen“ hebt Mau auf den neuen Charakter von Grenzen ab. Sie halten nicht mehr in erster Linie einen rivalisierenden Nachbarn auf Abstand, sondern fungieren heute als Filter, an denen Mobilität möglichst feinteilig gewährt oder aber eben verwehrt wird. Die Reisefreiheit der einen bedingt die Abwehr anderer. Nicht die globale Angleichung von Möglichkeiten geht also mit der Globalisierung des Reisens einher, sondern im Gegenteil die Zementierung der Unterschiede.

Handel mit Staatsbürgerschaften

Der richtige Pass ist in dieser Ordnung so viel wert, dass zum Beispiel Zypern ein einträgliches Geschäft aus dem Handel mit Staatsbürgerschaften machen konnte. Mehr als sechs Milliarden nahm das kleine Land seit 2013 so ein. Wer sich über dieses Business-Modell empört, möge bedenken, dass es nur Profit aus einer Ungerechtigkeit schlägt, diese aber nicht verursacht. Zu kritisieren wäre vielmehr, dass eine Geburtslotterie darüber entscheidet, wer gewinnt oder verliert.

Steffen Mau lehrt Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er gehört, wie Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa oder die über eine Plagiatsaffäre gestolperte Cornelia Koppetsch zu einer Reihe von Soziologen im besten Professorenalter um die 50, die in den letzten Jahren über ihre Fachgrenzen hinaus größere Aufmerksamkeit erfuhren. Zuletzt landete er mit „Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ einen Publikumserfolg. Mitunter ging der gebürtige Rostocker da auch mit dem Westen hart ins Gericht. Nur unterschwellig übt er dagegen in „Sortiermaschinen“ Kritik an der globalen Ungerechtigkeit.

Seine Ausführungen mögen Asyl-Aktivisten in ihrem Engagement gegen Grenzregemine bestärken, ihm selbst geht es um eine kühle Analyse, die so aber nur umso deutlicher die ungleichen Machtverhältnisse beschreibt.

Sein Buch ist der erste Band der neuen Edition Mercator, die C.H Beck gemeinsam mit der Stiftung Mercator herausgibt. Man darf von einem gelungenen Auftakt sprechen, da Mau die einst durch den namensgebenden Geografen gezogenen Grenzen neu verortet und bestimmt.

Sogenannte „shifting borders“ umfassen nicht mehr nur Staatsgebiete, sondern umspannen dynamisch und flexibel potenziell den ganzen Globus, um mit exterritorialen Kontrollen, bürokratischen Hürden, hohen Kosten für Visa und internationalen Abkommen schon weit vor der physischen Grenze unerwünschte Einreisen zu verhindern. „Selektivität findet schon statt, wenn Menschen sich keine Hoffnungen machen, überhaupt jemals irgendeine Grenze passieren zu können, und daher zu Hause bleiben, oder wenn sie nach der Beantragung eines Visums ein Ablehnungsschreiben erhalten.“ Das Flüchlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei wäre beispielhaft zu nennen, aber die europäische Grenze verläuft sogar noch weitaus südlicher.

Viele Migranten durchqueren das westafrikanische Land Niger auf ihrem Weg nach Norden. Auf Druck der EU hat der Staat Kontrollen verstärkt und Beschränkungen der Reisefreiheiten von Bürgern benachbarter Staaten erlassen. Unternehmen, die Menschen ohne gültige Papiere nach Niger transportieren, machen sich seitdem des Menschenschmuggels schuldig.

Transitländer als Wachtmeister

Solche Deals folgen oft einem zynischen Muster: Transitländer übernehmen Wachtmeister-Aufgaben und erhalten dafür selbst Visa-Erleichterungen. Durch diese „Ausweitung der Grenzzone“ fernab des eigenen Territoriums, können Staaten Menschen davon abhalten, bei ihnen Asyl zu beantragen, ohne dabei ihr liberales Selbst- und Fremdbild zu gefährden.

Die physische Grenze mit Schranken, Zäunen und Mauern ist laut Mau nur die vorerst letzte Barriere auf dem Weg in Zielländer. Bilder von Soldaten, die Gruppen von Einreisewilligen mit Gewalt zurückdrängen, wie zuletzt in Guatemala Anfang des Jahres, seien nur deshalb selten, weil entsprechende Vorkehrungen getroffen werden, um Migranten frühzeitig aufzuhalten.

Kontrolle ohne eigene Kenntnis

Hinter diesen Bemühungen stehe ein Sicherheitsparadigma, dessen Logik vorsieht, möglichst wenig hereinlassen und möglichst umfassend zu kontrollieren. Aber nicht nur die derzeit als riskant eingestuften Staatsbürger sind hiervon betroffen, auch die Priviligierten im Westen und globalen Norden werden kontrolliert, wenngleich meistens, ohne dass sie davon Kenntnis erlangen.

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Digitale Techniken ermöglichen eine Identifikation im Vorbeigehen, Programme gleichen Passagierlisten mit persönlichen Informationen aus dem Internet und biometrischen Daten ab, auf dem deutschen Personalausweis wird ab sofort ein Fingerabdruck gespeichert. Corona hat gezeigt, wie schnell sich Grenzen auch für uns verschließen.

Mau spricht in Anlehnung an seinen Kollegen Andreas Reckwitz von Risikopolitik, die ihr primäres Ziel in der Abwendung von Bedrohungen sieht, und warnt: „Wenn die Minimierung von Risiken und die Herstellung von Sicherheit als Leitsterne der Grenzpolitik aufsteigen, stehen umfassende Freizügigkeits- und Mobilitätsrechte für alle notwendigerweise zurück.“

Das luftige Wort Sicherheit beinhaltet damit auch dystopisches Potenzial für den globalen Norden, zumal es politisch sehr flexibel aufgeladen oder auch instrumentalisiert werden kann. Wenn Unvorhergesehenes geschieht, dürften auch die Gewinner der Geburtslotterie schnell vor verschlossenen Türen stehen.

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