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Ist gern unsichtbar. Milan Kundera

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Milan Kundera wird 90.: Heimweh nach Europa

Die Freiheit im Verborgenen: Zum 90. Geburtstag des großen tschechischen Schriftstellers Milan Kundera.

Von Gregor Dotzauer

Ohne ihn wollten sie auf der Leipziger Buchmesse dann doch nicht auskommen. Denn Milan Kundera ist, obwohl er sich von Land und Sprache seit einer halben Ewigkeit verabschiedet hat, nach wie vor die größte lebende Autorität der tschechischen Literatur. Mit einem Renault 5 voller Bücher und seiner Frau Véra ließ er 1975 die politische Tristesse Prags hinter sich und folgte einer rettenden Einladung an die Universität von Rennes.

Drei Jahre später ließ er sich von der École des hautes études en sciences sociales nach Paris locken. Die Ausbürgerung nach dem Erscheinen seines „Buchs vom Lachen und Vergessen“ erleichterte den endgültigen Bruch. Seit 1981 hat er einen französischen Pass, und seit 1995, angefangen mit dem Roman „Die Identität“, schreibt er sogar ausschließlich auf Französisch. Kunderas schon zu Gymnasialzeiten gewonnene Begeisterung für alles von den Surrealisten bis zu Sartre ließ sich endlich in vollem Umfang ausleben. In seinem Exil, bekannte er, sei er von der ersten Minute an glücklich gewesen.

Zu seinem privaten Leben haben nur wenige Zutritt

Insofern war die symbolische Heimholung, die ihm am Stand des Gastlands mit einer Wand voller Fotos, Zitate und hintergrundbeleuchteter Buchcover widerfuhr, fast eine Entführung. Erst im November hatte Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babiš zusammen mit seiner Frau die Kunderas in Paris besucht. Hinterher teilte er auf Facebook mit, er habe die beiden nach 22-jähriger Abstinenz nach Prag eingeladen und ihnen die Rückgabe der tschechischen Staatsbürgerschaft angeboten. Die Antwort steht bis heute aus. Sie liegt wohl in den Worten, die Babiš auf einer Lampe im Wohnzimmer der Kunderas las und beeindruckt postete: „Je m’en fous“. Ist mir scheißegal.

Dazu gehört, dass sich Milan Kundera als öffentliche Person an der Grenze zur Unsichtbarkeit bewegt. Zu seinem privaten Leben haben nur wenige Zutritt. Tomáš Kubícek, Projektleiter des Leipziger Auftritts, traf ihn bei seinem letzten Besuch aber munter und redselig an, mit einem unverwüstlichen Sinn für Humor und anhaltender Freude an seiner Bücher- und Schallplattensammlung sowie gelegentlichen Theaterbesuchen. Kundera sucht seine Freiheit im Verborgenen, als könnte er sich aus allen Erwartungen davonstehlen. Der kanadische Literaturwissenschaftler François Ricard hat diese Geste in „Agnes’ letzter Nachmittag“ (Hanser) am Beispiel des Romans „Die Unsterblichkeit“ als allgemeinen Zug von Kunderas Figuren nachgezeichnet. Aber darf man das biografisch verstehen?

„Ich träume von einer Welt, in der Schriftsteller gesetzlich verpflichtet wären, ihre Identität geheim zu halten und ein Pseudonym zu verwenden“, erklärt Kundera unter dem Eintrag Pseudonym in dem Kapitel „Fünfundsechzig Wörter“ seines Essays „Die Kunst des Romans". Dies bringe drei Vorteile: „radikale Einschränkung der Grafomanie; Verringerung der Aggressivität im literarischen Leben; Verschwinden der biografischen Deutung von Werken.“

Kundera balanciert das Leichte bewusst mit dem Schweren aus

Ganz entkommen wird er ihr nicht, zumal seine Romane die ebenso beflügelnden wie destruktiven Energien von Liebe und Sexualität, Politik und Widerstand, Treue und Verrat, Heimat und Flucht auf eine Weise verhandeln, die ohne lebensgeschichtliche Grundlage schlechterdings undenkbar sind. Das beginnt mit seinem ersten großen Roman „Der Scherz“ (1967), der mit giftiger Ironie in die Abgründe des Kommunismus bis kurz vor dem Prager Frühling leuchtet, und reicht weit über seinen Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (1984) hinaus. Ausgehend vom Einmarsch der Russen in Prag entfaltet Kundera darin die spannungsreiche Beziehung von Tomas, dem lüsternen Chirurgen, und Teresa, der duldsamen Kellnerin, in der ihm eigenen Mischung aus vorwärtsdrängendem Erzählen und reflektierendem Innehalten.

Sie prägt mit leicht verschobenen Anteilen auch seine Essaybände „Verratene Vermächtnisse“ (1993) oder „Eine Begegnung“ (2009) mit ihren literarischen und musikalischen Einsichten. Ihre kleinteilige, das Leichte bewusst mit dem Schweren ausbalancierenden Beweglichkeit ist womöglich haltbarer als so mancher kaleidoskopisch verspielte Roman mit seinen philosophischen Spruchweisheiten. Aber das werden Jüngere wie der 1981 geborene Schriftsteller Jan Nemec entscheiden, der im Osburg Verlag gerade seinen schönen Debütroman „Die Geschichte des Lichts“ über den Fotografen František Drtikol veröffentlicht hat. Für ihn bleibt Kundera trotz einer Spitzelaffäre, die 2008 den damals 20-Jährigen ins Zwielicht rückte, eine unumstößliche Instanz.

Tatsächlich gibt es angesichts der vor allem in Osteuropa grassierenden Europamüdigkeit keinen besseren Verbündeten als Milan Kundera, der schon 1985 die gemeinsame Kultur entschwinden sah und die melancholische Devise ausgab: „Ein Europäer: wer Heimweh nach Europa hat.“ Und auch zu seinem 90. Geburtstag am heutigen Montag nimmt er noch am Weltgeschehen teil. So unterschrieb er im Januar zusammen mit Elfriede Jelinek, Ian McEwan, Adam Michnik und Orhan Pamuk ein „Manifest europäischer Patrioten“ wider die populistischen Brandstifter dieser Jahre. In Tschechien, einem typischen Wackelkandidaten der Gemeinschaft, hat man das durchaus gehört. Gregor Dotzauer

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