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Kultur: Mit Herz und Kehle

Jauchzet, frohlocket: Früher sangen die Mönche, heute tun es auch Laien, im Chor oder im Fußballstadion. Kleine Geschichte der Stimme

An Weihnachten traut sich jeder, irgendwie. „O du fröhliche“ in der Kirche oder im Kreise der Lieben, und in der dritten Zeile von „Stille Nacht“ springt der Vater in die untere Oktave. Manche schaffen die zweite Stimme, aber die meisten sind froh, wenn es schnell wieder vorbei ist.

Was das Singen betrifft, kann auch die Kanzlerin mit einer typisch deutschen Kindheit aufwarten. Die Pfarrerstochter aus Templin erinnert sich an das „Blockflöten-Niveau“ ihrer musikalischen Frühbildung. Die Familie sang unterm Tannenbaum und bei Geburtstagen, die Tochter war im Kirchenchor und kann noch heute die zweite Stimme zu „Wenn alle Brünnlein fließen“. Nur textsicher ist sie nicht – womit Angela Merkel dem Volk nach dem Mund geredet haben dürfte: Wenn nicht gerade Weihnachten ist, geht Singen bei den meisten nur noch im Fußballstadion oder, im Rheinland, an Karneval. Auch Karaoke trauen viele sich erst nach dem dritten Bier.

Dabei ist Singen die natürlichste Sache der Welt. Mund auf, Luft holen – und los. Wie man seine Stimme erhebt, weiß jedes Kind. Nur schreien ist schöner. So wie der Zweijährige in seinem Kauderwelsch vermutlich alle Sprachen gleichzeitig reproduziert, bringt er auch alle Arten von Klängen und Tönen hervor. Sprechen lernen bedeutet: außer der eigenen die anderen Sprachen vergessen – und den Gesang.

Also erinnern wir uns. Mund auf, tief in den Bauch rein atmen, auf dass er sich füllt wie ein Schwimmring. Die Lunge mit dem Zwerchfell stützen, den Brustkorb weiten, die Nasenflügel blähen – und los. Der Kiefer bleibt locker, der Kehlkopf darf nicht verkrampfen. Bei den hohen Tönen tut Verspannung auf die Dauer weh und sorgt für ein metallisches Timbre. Nein, sie sollen schön voll sein und rund und wie Murmeln der Mundhöhle entweichen. Das Innenohr hört mit, und prompt bist du umgeben von deinem eigenen Klang.

Meine Eltern haben mich schon als kleines Mädchen in den Chor geschickt, und seitdem mag ich es: das irre Gefühl, ein Resonanzkörper zu sein, ein Musikinstrument vom Scheitel bis zum Zeh. Wie der Ton sich aus den Tiefen des Leibes Bahn bricht und die Stimmbänder in Schwingung versetzt, bis er Vibratowellen schlägt, das hat etwas Paradoxes: Wer singt, ist ganz bei sich und doch außer sich. Eine zivilisierte Ekstase. Aber obwohl das Singen eine Enthemmung darstellt, die kulturell hochsanktioniert ist, tun viele es nur, wenn sie sich unkontrolliert wähnen. Solo singen in der Öffentlichkeit lediglich Profis und Betrunkene, nüchtern gehört sich so etwas für Laien einfach nicht. Dabei würden etliche es zu gerne tun. Ich wohne in einer verkehrsberuhigten Straße, die von vielen Radfahrern frequentiert wird: Kaum zu glauben, wie viele Menschen beim Radfahren singen, weil sie meinen, dass niemand sie hört.

Lobe den Herrn, meine Seele. Mein erster Chor war der Domchor. Sonntagsmesse, Abendandacht, Orgelkonzert, das volle Programm. Gregorianik: viereckige Noten, die nach seltsamen Regeln gesungen wurden. Bachs Motetten: Die Choräle schmeichelten der Kehle wie Honig, jede Harmonie ein süßer, schwerer Tropfen. Später dann, in einem nichtkirchlichen Chor, Mozarts unanständige Kanons, „Vier ernste Gesänge“ von Brahms, die „Matthäus-Passion“, das „Weihnachtsoratorium“, bestimmt ein Dutzend Mal.

Mein erstes richtiges Konzert war Mozarts „Requiem“. Weil ich die Kleinste war, stand ich in der ersten Reihe. Die Solisten fanden das dicke Kind mit den Kniestrümpfen süß, ich fand es aufregend. Dies Irae, Lacrimosa, Zorn, Trauer, Todesangst: Solche großen Gefühle kannte ich kaum, und sie steckten doch in meiner eigenen Stimme. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Noch heute habe ich nachts oft die Musik des Tages im Kopf: Seit sich singe, schlafe ich schlecht.

Aber das macht nichts. Denn noch schöner als Singen ist das Singen im Chor. Weil man mit ihm Bühnen bevölkern kann, die man alleine nie zu betreten wagte. Weil man als Stimmvieh in der Menge verschwindet und sich doch fühlt wie die Callas persönlich. Was mein kläglicher Sopran nicht vermag, gleicht die Gruppe aus, inklusive der Patzer. Wohlig eingebettet im Chorklang, kennt das eigene Organ keine Grenzen, schwingt sich gleichsam schwerelos an Dreiklangsgirlanden nach oben, verstrickt sich im Gespinst der Polyphonie, schmiegt sich in Terzen an die Stimmen der anderen oder umgarnt sie mit hurtigen Läufen, spinnt neue Klangfäden, trumpft auf im Akkord. Niemand hat das schöner beschrieben als Richard Powers in „Der Klang der Zeit“, diesem atemberaubenden Roman über das Singen.

Ich bin viele, ich bin laut, ich bin ganz Affekt. Roland Barthes nannte es Wollust. In jedem Fall hat es mit Erotik zu tun, mit einer körperlichen Sensation, mit unmittelbar empfundenem Glück. Selbst Carl Orffs „Carmina Burana“ habe ich im 200-köpfigen Studentenchor mit Wonne geschmettert, obwohl schon der Fortissimo-Anfang in quälend hoher Lage der Musik und denen, die sie machen, Gewalt antut. Heute denke ich: Auch die Erregung hat eine Moral.

Moment mal. Chöre sind doch das Letzte. Rappen, das ist Singen im 21. Jahrhundert! Oder ein Recital von Anna Netrebko, Christine Schäfer oder Cecilia Bartoli hören, die können es wenigstens. Bitte nicht dieser dilettantische Laiengesang mit unsauberer, in den Ohren klingelnder Intonation statt zauberhaftem Belcanto! Und bloß nicht diese Cliquenwirtschaft mit wöchentlicher Probe in einem hässlichen, im Winter unterkühlten Gemeindesaal samt cholerischem Chorleiter und anschließendem obligatorischen Kneipenbesuch! Seit dem Domchor – Anfang der Sechziger gab’s für die Knaben noch Stockhiebe, wenn sie nicht stillsaßen – habe ich nur cholerische Chorleiter erlebt: Männer, die auf Disziplin und Pünktlichkeit Wert legten und wahre Tyrannen sein konnten, wenn der Gesang ihre Ansprüche enttäuschte. Okay, es gibt auch andere, aber vielleicht gehört die freiwillige Unterwerfung zur Wollust dazu.

Chöre sind Familienclinch, mit Papa (Bass), Mama (Alt), Tochter (Sopran) und Sohn (Tenor). Und sie setzen sich nach dem immergleichen Muster zusammen. Da gibt es die Vereinsmeier im Bass, die so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Die beflissenen Damen im Alt brechen leicht in Tränen aus, wenn der Chef mal wieder poltert, und übernehmen eifrig die Ehrenämter, weshalb niemand sie nach Hause zu schicken wagt – und wenn sie noch so falsch singen. Die Mädels im Sopran kommen permanent zu spät und tuscheln ganze Proben durch, dafür retten sie so manchen um ein Haar vermasselten Einsatz. Und Tenöre – gibt es immer zu wenig. Der Rest ist Gruppendynamik, vom Psychosozialstress beim Probenwochenende im Landschulheim bis zu den Eifersüchteleien bei der Stehplatzverteilung auf dem Konzertpodium.

Man muss sich das vorstellen: Ausgewachsene Männer und Frauen steigen beim Einsingen auf die Zehenspitzen und juchzen zu Übungszwecken im Kollektiv. Woraufhin sie nach Lokomotivenart Konsonanten explodieren lassen und in aufsteigenden Dreiklängen zwanzigmal hintereinander „Maoam“ anstimmen, bis sie in Hochgeschwindigkeit „Simsalabim bam basala du sala dim“ radebrechen oder unisono „Kinder essen Käsekekse“ intonieren, für die bessere Artikulation. Eine Geheimloge mit mysteriösen Ritualen: Für Außenstehende muss sich all das wie höherer Schwachsinn ausnehmen. Man kommt sich verdammt nah bei solchen physischen Aktivitäten; meine beste Jugendfreundin, meine erste Liebe, beide sangen mit mir im Chor.

Aber daran allein kann es nicht liegen, dass sich Chöre bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Neben Profi- und Renommierchören wie der Berliner Singakademie, dem RIAS Kammerchor, dem Tölzer Knabenchor oder den Thomanern in Leipzig zählt der Deutsche Musikrat hierzulande 65000 Chöre mit 1,8 Millionen aktiven Sängerinnen und Sängern. Es gibt Männerchöre, Frauenchöre, Kinderchöre, Schulchöre, Kirchenchöre, Uni-Chöre, schwule Chöre, Bergsteigerchöre, Werkschöre, Polizeichöre, Madrigalchöre, Gospelchöre, Shanty-Chöre, Kiez-Chöre – eine schier endlose Liste.

Zwar sangen 2005 nur noch 6,3 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren nach eigener Auskunft im Chor oder im Gesangsverein; im Jahr 2000 waren es noch 6,7 Prozent. Aber langfristig ist alleine in den alten Bundesländern die Zahl der Laienchöre seit 1965 um 25 Prozent gestiegen. Die Mitgliedszahlen mögen leicht rückläufig sein, Kirchenchor und Gesangsverein selbst auf dem Land nur noch selten den sozialen Lebensmittelpunkt bilden, und in den Großstädten dürfte das Chorwesen längst zur Subkultur zählen. Trotzdem sind bei den bundesweiten Chorfesten, bei den Fischer-Chören oder im ZDF-Wettbewerb um den „Grand Prix der Chöre“ nächstes Jahr im Mai immer wieder Tausende dabei.

Mit den Nazis waren all die Wandervogel- und Singbewegungen eigentlich in Misskredit geraten. Auch böse Menschen haben Lieder. SA marschierte im Takt, kollektiver Gesang war danach obsolet. Und das Volkslied erst recht. Wie der Heimatfilm wurde auch das Laiensingen der deutschen Gemütlichkeit zugerechnet, und die geriet nach 1945 unter Generalverdacht. Musikantenstadl? Was für Ewiggestrige. Dabei hatten der Liederfrühling und die massenhafte Gründung von Chören im späten 18. und 19. Jahrhundert weniger mit hitziger Vaterlandsliebe zu tun als mit der Gemütskultur eines bürgerlichen Patriotismus. Raus aus der Kirche, rein in den Gesangsverein: Das bürgerliche Selbstbewusstsein tobte sich nicht nur bei Turnvater Jahn aus, es manifestierte sich auch in Liedertafeln und Singgemeinschaften. Die allererste Einheit im Deutschen Reich, sie wurde gewissermaßen herbeigesungen.

Aber trotz aller im Nationalsozialismus gründenden politischen Skrupel konnten auch die Nachkriegsdeutschen das Singen nicht lassen. Also noch einmal: Warum um Himmels willen singt der Mensch? Warum spannt er die Stimmbänder zwischen Ring-, Schild- und Stellknorpeln und zieht seinen musculus vocalis zusammen, auf dass ihm Töne entweichen? Man denke nur an die Oper, diese Kunst der Hysterie: Da stirbt einer und haucht seinen letzten Atemzug aus, hat aber gleichzeitig noch genug Luft, um minuten-, ja halbe Stunden lang Koloraturen zu singen. Ahmt er etwa die Nachtigall nach?

Der Mensch schreckte in Urzeiten mit Gesang die Raubtiere ab, sagt der Prähistoriker. Singend kommt er beim anderen Geschlecht besser an, wie die werbenden Vögel in der Paarungszeit, sagt Darwin. Es macht fit, steigert die Leistung und lindert seelisches Leid, sagt der Arzt. Für eine Studie nahmen Chorsänger während einer Mozart-Probe Wattebäusche, danach hatten sie mehr Immuglobin A im Speichel: Singen ist nachweislich gut gegen Grippe. Und der Philosoph sagt, es sei überhaupt zuerst da gewesen. Erst der Gesang, dann die Sprache. Das Herz macht sich Luft, und irgendwann entwickelt sich Vokabular und Grammatik daraus.

„War die erste Sprache des Menschen Gesang, so wars Gesang, der ihm so natürlich, seinen Organen und Naturtrieben so angemessen war, als der Nachtigallengesang ihr selbst, die gleichsam eine schwebende Kehle ist, und das war eben unsre tönende Sprache. (…) Da sang und tönte also die ganze Natur dem Menschen vor, und der Gesang des Menschen ward ein Konzert aller dieser Stimmen, sofern sie sein Verstand brauchte, seine Empfindung fasste, seine Organe sie ausdrücken konnten.“ Das schrieb, in vielstimmig verschlungenem Duktus, Johann Gottfried Herder 1772 in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“.

Damals wollten die Philosophen partout zurück zur Natur, und Herders französischer Kollege Jean-Jacques Rousseau erfand die wunderbare Geschichte vom Paradies, in dem die Menschen sich nicht miteinander zu verständigen brauchten, weil es Wasser im Überfluss gab. Aber dann kam eine Dürre, zum ersten Mal erlebten sie Mangel und mussten Wasserstellen aufsuchen. Dort erblickten die jungen Frauen und die jungen Männer einander, und die Freude darüber, dass sie nicht allein waren, löste ihnen die Zunge.

Tolle Vorstellung: Der Mensch begann zu singen, als er sich verliebte. Seitdem singt er, weil er sich nach dem Paradies zurücksehnt, dem ursprünglichen Zustand des Einsseins. Ein guter Gesang wischt den Staub vom Herzen, sagt ein Sprichwort. Deshalb berühren sie uns, die archaischen Gesänge der Mönche genauso wie das Kinderlied oder die Wagner-Arie.

Und deshalb brachten selbst die der bürgerlichen Tradition abholden 68er ihr eigenes Liedgut hervor. Dass schon Schuberts romantische „Winterreise“ von einem antinapoleonischen Freiheitskämpfer erdichtet wurde, wussten zwar die wenigsten. Aber was wäre die linke Protestkultur ohne Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader oder Dieter Süverkrüp? Und wie hätten Friedensbewegung und Atomkraftgegner ohne die Anti-AKWHymne „Wehrt euch, leistet Widerstand“ durchgehalten? Wohl dem, der sich für Brokdorf oder Gorleben schon in Zeltlagerzeiten mit Hilfe der „Mundorgel“ ein paar Gitarrengriffe angeeignet hatte. Ich konnte auf Demos wenigstens mit den richtigen Tönen aufwarten.

Auch in anderem Zusammenhang erwies sich die langjährige Chorerfahrung als nützlich. Wenn meine Tochter nicht schlafen wollte, wenn das klassische Schlaflied oder Jiddisches von Zupfgeigenhansl nicht die gewünschte sedative Wirkung zeitigten, halfen garantiert BachChoräle. Wegen der Dauer: Von „Jesu, meine Freude“ konnte ich immerhin einige Strophen. Und die einst auf Chorfreizeiten erworbene Kenntnis lustiger Kanons taugte prima, um lange Autofahrten mit kleinen Kindern zu überstehen.

Mittlerweile singe auch ich meistens nur noch, wenn keiner mir zuhört. Im Lauf der Jahre ist die Stimme nach unten gerutscht, alles über dem hohen A geht noch nur noch mit Krächzen und Klimmzug. Aber wo das mittlere A liegt, das weiß die Kehle bis heute genauso, wie der Gaumen Schokolade und Pfeffer am Geschmack zu unterscheiden vermag.

Als Sasha Waltz kürzlich im Berliner Radialsystem acht Sänger des Vokalconsort auf Schaukeln setzte und deren Stimmen durch den Raum schweben und aufeinander zufliegen ließ, konnte man es nicht nur hören, sondern auch sehen: Es ist der Himmel auf Erden. „Die Musik“, schreibt Richard Powers, „erinnert uns daran, wie kurz die Zeit ist, in der wir einen Körper haben.“ An Heiligabend werden wir die alten Familiennoten auspacken und es wieder vierstimmig versuchen.

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