Kultur: Moskauer Virus
Kritische Töne zum Start der Leipziger Buchmesse
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Vielleicht handelt es sich bei der alten deutschen Russlandobsession und der neu entflammten russischen Deutschlandpassion tatsächlich um eine ewige „Krankengeschichte“. Was Kerstin Holm, die Laudatorin von Gerd Koenen und Michail Ryklin, der diesjährigen Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, im Gewandhaus eine historische „Hassliebesleidenschaft“ nannte, infiziert die Beziehungen zwischen den beiden Ländern längst wieder von neuem – nur dass die Inkubationszeit noch andauert und der schöne, bis auf den Makel Tschetschenien weitgehend symptomlose Schein einer gesunden Modernität auf beiden Seiten die Lage unterschätzt. „Ich will nicht behaupten, dass das offizielle Bild Russlands als einer neuerdings ,souveränen’ Demokratie gar keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat“, meinte der russische Philosoph Michail Ryklin, der für sein Buch „Das Recht des Stärkeren“ ausgezeichnet wurde. „Eines aber ist gewiss: Wirklich begreifen kann man es erst, wenn man die traumatische Kehrseite dieses Bildes zu sehen bekommt.“ Die Verwüstung einer religionskritischen Kunstausstellung im Moskauer Sacharow-Zentrum und ein sich daran anschließender monatelanger Gerichtsprozess, in dem auch Ryklins Frau mit angeklagt war, bildete für ihn das Schlüsselerlebnis. „Natürlich“, sagt er, „ist das heutige Russland nicht mehr die Sowjetunion mit ihrer übermächtigen Ideologie, dem alles bestimmenden Warendefizit und den geschlossenen Außengrenzen, aber es ist auch kein Land, in dem Gesetze eingehalten werden und ein Dialog zwischen Bürgern und Staatsmacht möglich ist.“
Nur die Deutschen scheinen sich beharrlich zu weigern, dieses andere, autoritäre Russland wahrzunehmen. „Angesichts der deutschen Russlandpolitik der letzten Jahre, insbesondere während der Amtszeit von Bundeskanzler Schröder“, erklärte Ryklin, „fragte ich mich oft, wie stark die Abhängigkeit der Politik von persönlichen Beziehungen sein darf. Können Politiker ignorieren, was ihre eigenen Landsleute, die Auslandskorrespondenten deutscher Zeitungen und Zeitschriften, schreiben? Was ist zu tun, wenn nahe liegende wirtschaftliche Interessen mit langfristigen Grundsätzen in Widerspruch geraten?“ Bitterer hat lange niemand mehr auf die schnöde Interessenpolitik hingewiesen, die Gerhard Schröder durch den Aufsichtsratsvorsitz bei der Gaspipelinegesellschaft NEGPC, einer 51-prozentigen Gazprom-Tochter, deren übrige Anteile sich BASF und E.ON teilen, sogar noch bekräftigt hat.
Der Historiker Gerd Koenen, der für seine geistesgeschichtliche Studie „Der Russland-Komplex“ prämiert wurde, sagte, es sei „unverkennbar, dass Putin – ganz in der Tradition Peters, Lenins und Stalins – wieder einmal die Deutschen für das prädestinierte Objekt seiner Werbungen und aufgefrischten Weltmachtambitionen hält.“ Diese „ziemlich ungedeckten Angebote“ führten bei „Teilen der politischen und wirtschaftlichen Klasse dieses Landes zu einer erstaunlichen Ignoranz und Hartleibigkeit gegenüber dem, was im großen östlichen Nachbarland gerade geschieht.“ Sein Wort in Frank-Walter Steinmeiers Ohr.
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