
© Sandra Gómez
„My Undesirable Friends Part I“ auf der Berlinale: Als in Russland der Journalismus zu Grabe getragen wurde
„My Undesirable Friends: Part I – Last Air in Moscow“ begleitet junge russische Journalistinnen bis zum Beginn des Ukraine-Kriegs. Julia Loktevs Dokumentarfilm ist auch eine Warnung in Richtung USA.
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Es ist unvermeidlich, etwa nach der Hälfte von Julia Loktevs fünfeinhalbstündigen Dokumentarfilm „My Undesirable Friends: Part I – Last Air in Moscow“ an die aktuelle Situation in Amerika zu denken. Das merkt auch die 1969 im damaligen Leningrad geborenen und heute in New York lebende Regisseurin beim Treffen in Berlin an. Ihr gewaltiges Filmprojekt hat inzwischen schon mehrere Transformationen hinter sich.
Loktev flog im Oktober 2021 nach Moskau – ursprünglich für ein Porträt über das Leben und die Arbeit junger russischer Dissidenten. Wenige Monate zuvor hatte die Putin-Regierung das seit 2012 bestehende Gesetz verschärft, dass sich kritische Journalistinnen und Journalistin als „ausländische Agenten“ auszugeben haben. Die Liste von Verdächtigen, anfangs noch 25, wuchs wöchentlich.
Die mit der Regisseurin befreundete russische Journalistin Anna Nemzer stellte den Kontakt zu anderen jungen Journalistinnen her, die im Umfeld des Moskauer Nachrichtensenders TV Rain weiter dafür kämpften, die Bevölkerung mit Informationen zu versorgen. Loktev blieb vier Monate in Russland, eine Woche nach der Ukraine-Invasion reiste sie mit der letzten der von ihr porträtierten Journalistinnen aus. In der Zwischenzeit war aus ihrem Dokumentarfilmprojekt ein Stück Zeitgeschichte geworden.
Panik am Küchentisch
Rückblickend, sagt Loktev in Berlin, porträtiere „My Undesirable Friends: Part I“ eine Gesellschaft am Wendepunkt. „Bis heute haben eine Million Menschen Russland verlassen. Wir zeigen die letzten Tage, in denen Oppositionelle in Russland leben konnten und dachten, sie hätten dort vielleicht noch eine Zukunft.“ Die Regisseurin ist dabei, als die schleichende Erkenntnis einsetzt, dass die Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist.
Loktev sitzt am Küchentisch von Alesya Marokhovskaya und Irina Dolinina, die mit Galgenhumor auf die immer neuen Dekrete Putins reagieren. Sie begleitet Sonya Groysman und Olga Churakova, die den Podcast „Hi, You’re a Foreign Agent!” machen. Die beiden Journalistinnen sehen die ironische Selbstschreibung aber zunehmend kritischer, je ernster die Lage wird.

© Julia Loktev
Ihr Humor dient in den ersten drei der fünf Kapitel noch als Selbstschutz. „Diese jungen Frauen sind schlau, witzig, sie denken schnell“, sagt Loktev. „Aber sie hatten keine Vorstellung davon, was passieren könnte.“ Als Zuschauer begleitet man ihre Protagonistinnen in dem Wissen um den Ausgang ihres Einsatzes, darum fühlt sich ihr Sarkasmus, die Angst um das eigene Leben und das Leben von Freunden und Kolleginnen umso niederschmetternder an.
Der Mann der 23-jährigen Ksenia Mironova, ebenfalls Journalist, sitzt zu Beginn der Dreharbeiten bereits im Gefängnis. (Inzwischen wurde er zu 20 Jahren in einem sibirischen Gefängnis verurteilt.) Man vergisst irgendwann, wie jung die Journalistinnen sind, die Putins Regime mit Mordor und Harry-Potter-Romanen vergleichen.
Loktev sitzt meist stumm daneben und filmt ihre Gespräche, manchmal sprechen Anna, Ksenia und Olga sie auch direkt an. Auf die Frage, ob sie einen anderen Ansatz gewählt hätte, hätte sie gewusst, welche Wendung die Ereignisse am 24. Februar 2022 nehmen würden, zuckt sie ratlos mit den Schultern: „Ich saß vor einigen Jahren bei einem Gala-Dinner, bei dem Bob Woodward einen Satz über die Arbeit von Journalisten gesagt hat, den ich mir seitdem zu Herzen nehme: ‘Das Wichtigste ist, einfach die Klappe zu halten.’ Wenn Du lange genug mit Leuten herumhängst, fangen sie irgendwann an zu reden, trotz Kamera.“
Dramaturgie eines Polit-Thrillers
Die fünfeinhalb Stunden folgen der Dramaturgie eines Polit-Thrillers. „My Undesirable Friends: Part I“ ist in der Form offen, er nimmt sich die Zeit, die Frauen kennenzulernen; und er ist gleichzeitig extrem kondensiert. „Mir wurde gesagt, der Film sei ziemlich binge worthy“, lacht Loktev. „Er hat die Unmittelbarkeit von echtem Leben, fast wie Reality-TV. Nur ist hier nichts geskriptet. Ich habe sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme gemacht, darum filme ich meine Protagonisten, wie ich Schauspieler filmen würde.“
Nach der US-Präsidentschaftswahl sieht Loktev ihren Film mit anderen Augen. Wie lange können die Journalistinnen noch ungefährdet in Russland arbeiten? Bleiben oder fliehen? Um diese Fragen drehen sich die moralischen Konflikte in „My Undesirable Friends: Part I“. Was solle sie später ihren Kindern zeigen, fragt Sonya einmal, wenn die fragen, was sie gegen Putin unternommen habe? Insta-Stories?
Loktev denkt aber schon an die größeren Implikationen für Amerika und Europa. „Was in Russland passierte, können wir gerade auch unter Trump beobachten: Drohungen gegen Journalisten, pauschale Verdächtigungen, Prozesse. Aber es geht nicht nur um die Medien, es geht um die Gesellschaft. Die Frage ist doch: Unter welcher Art von Regierung wollen wir leben? Und wann beginnen wir, die Gefahr ernstzunehmen?“
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