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Jürgen Flimm, damals Intendant der Staatsoper, 2016 in Berlin.

© dpa / Maurizio Gambarini

Nachruf auf Jürgen Flimm: Rebell, Zauberer, Menschendurchschauer

Jürgen Flimm gehörte zu den großen deutschen Theatermachern. Als Intendant feierte er große Erfolge in Köln, Hamburg und Berlin. Nun ist er mit 81 Jahren gestorben.

Wohl alles, was sich ein Theater- und Opernregisseur erträumen kann, hatte er in seinem Leben erreicht. Jürgen Flimm bekam nach dem Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft in Köln samt frühem Engagement als SPD-Jungsozialist eine Assistentenstelle in den wilden 68er-Zeiten an den Münchner Kammerspielen. Damals schürte dort noch der große alte Fritz Kortner als Prometheus der Theaterjahrhundertgeschichte das künstlerische Feuer, und in seinem Schatten begann der junge Peter Stein das eigene Licht zu polieren. Ein spannender, beziehungsvoller Anfang.

Kaum ein Jahrzehnt später reüssierte Jürgen Flimm schon als Intendant des Schauspiels Köln und galt selbst fortan als Urkölner, der er von Kindesbeinen auch war, obwohl in Gießen geboren. Nach Köln folgte ab 1985 die noch erfolgreichere fünfzehnjährige Intendanz am Hamburger Thalia Theater, später amtierte er als Chef der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele, und zuletzt, von 2010 bis 2018, leitete Flimm dann die Staatsoper in Berlin.

Abgesehen von seinen Theater- und Operninszenierungen, international von der New Yorker Met bis zur Avantgardebühne in Peking, war er auch Präsident des Deutschen Bühnenvereins oder lehrte an Universitäten in Harvard und Hamburg. Sogar Bücher hat er geschrieben. Von Stücken und Inszenierungen, von komischen Anekdoten und manch Märchenhaftem handelte seine 2010 im Salzburger Müry-Salzmann Verlag erschienene, mit eigenen Strichzeichnungen versehene Textsammlung „Die umgestürzte Pyramide“. Und im Herbst werden nun posthum noch bei Kiepenheuer & Witsch seine Lebenserinnerungen erscheinen. Zur „Pyramide“ notierte damals Wolf Lepenies: „Flimm ist nicht nur als Regisseur, sondern auch als Autor ein Atmosphärenzauberer und Menschendurchschauer.“

Bei alledem war Jürgen Flimm, der am Samstag in seinem Landhaus nahe bei Hamburg an den Folgen eines Unfalls im vergangenen Jahr und einer schweren Nierenerkrankung mit 81 Jahren gestorben ist, ein beneidenswert entspannter, von Heiterkeit und Herzlichkeit erfüllter Mensch. Manchmal sagte er im Privaten, dabei als gelernter katholischer Chorknabe leise auf Holz klopfend: „Ich habe viel Glück gehabt, immer schöne Rollen, dafür bin ich dem Theaterdirektor dort oben über den Wolken sehr dankbar.“

Anfangs aber hat er auch kämpfen müssen. Denn bereits seine erste Regie an einem Großtheater löst einen Skandal aus. Das war 1976 eine furiose Inszenierung des damals noch weitgehend unbekannten russischen Revolutionsstücks „Marija“ am Bayerischen Staatsschauspiel. Das Premierenpublikum im Münchner Residenztheater tobte zwischen Jubel und Jähzorn, eine im Halbdunkel vollzogene, in Isaak Babels Drama durchaus enthaltene Vergewaltigungsszene mit der jungen Schauspielerin Rita Russek hatte zuvor fast zum Abbruch der Aufführung geführt. Während die CSU darauf Flimms Rauswurf und die Wiedereinführung der Theaterzensur forderte, konnte ich als Jungkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ die Entdeckung eines Stück und eines noch kaum bekannten Regisseurs preisen.

Später, als zumeist allseits Gelobter, hat Jürgen Flimm im Theater, in der Oper und auch im Fernsehen dann keineswegs nur Meisterwerke geliefert. So wurde sein Bayreuther „Ring“ 2000 nicht der erhoffte Millenniumswurf. Das passierte. Für Flimm gehörte zur Kunst auch Becketts Kunst(spruch) „Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern.“ Doch sind ihm ganz viele unvergessliche Aufführungen gelungen.

Artisten unter der Zirkuskuppel

Als Anfang der 1980er das Kölner Schauspielhaus umgebaut wurde, setzte er kurzerhand ein Zirkuszelt vors Theater und ließ seine Spieler als Artisten in und unter der Zirkuskuppel schweben. Was am schönsten bei Büchners „Leonce und Lena“ gelang, indem sich die Träumer und Existenztänzer des vorrevolutionären, frühsurrealen Lustspiels auf Schaukeln dem freien Sehnsuchtssüden namens Italien entgegenschwangen. Auf einem Dorfplatz nahe Rom hat er das Zelt auch bei einem Gastspiel aufgebaut, und ganz Theateritalien staunte und jubelte. Wunderbar auch sein Kölner „Käthchen von Heilbronn“, nicht im Zelt, aber bildstark und mit Katharina Thalbach und Elisabeth Trissenaar als fabelhaften Antagonistinnen.

Oder in Hamburg Flimms Triumph mit Tschechows „Platonow“: Kaum je wurde die sterbenskomische Lebenslangweile der Tschechow-Figuren in über fünf Stunden derart aufregend, ja kurzweilig vorgeführt. Elisabeth Schwarz und Hans Christian Rudolph an der Spitze machten noch feinste seelische Regungen zu sinnlichen Sensationen, dafür wurde die Inszenierung 1989 auch beim Berliner Theatertreffen gefeiert.

Dann ein viel späteres Ausrufezeichen, als die Lindenoper nach Charlottenburg ins Schillertheater ausweichen musste. Jürgen Flimm hat dort mit seinem „Figaro“ 2015 die italienische Mozartoper ingeniöser, als es selbst Giorgio Strehler an der Mailänder Scala gelungen war, in eine musikalische Commedia dell‘Arte verwandelt. Mit Sängerinnen und Sängern wie Anna Prohaska und Ildebrando D’Arcangelo, die als Virtuosen auf Stegen über den Orchestergraben hinweg sich ins Parkett und buchstäblich in die Herzen des Publikums spielten.  

Ovationen ohne Ende

Zudem hat der Intendant Jürgen Flimm so großzügig wie klug auch immer das Genie anderer gefördert. Oder begleitet – wie in der Freundschaft mit Daniel Barenboim in Berlin oder früher schon mit dem Komponisten Luigi Nono, dessen Oper „Al gran sole“ 1978 Flimms Durchbruch als Opernregisseur bedeutete. Dazu zahlreiche Inszenierungen zwischen Amsterdam und Wien mit dem ihm eng verbundenen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Noch in seiner Kölner Zeit hatte er die Kooperation von Robert Wilson und Heiner Müller in den epochalen „Civil Wars“ ermöglicht.

Im Thalia Theater in Hamburg brachte er Wilson und Tom Waits samt Akteuren wie Annette Paulmann und Stefan Kurt beim legendären „Black Rider“ zusammen. Theater, Musik und Bildmagie wurden da zu Gesamtkunstwerken. Und stilbewusst hat Flimm 2016 Patrice Chéreaus letzte große Operninszenierung, Richard Strauss‘ „Elektra“ mit Waltraut Meier, Michael Volle und der fantastischen Evelyn Herlitzius in der Titelrolle, als Gastspiel und Hommage an den 2013 verstorbenen Jahrhundertregisseur nach Berlin eingeladen. Ein Ereignis, die Ovationen wollten kein Ende nehmen.

Jürgen Flimm war ein Besonderer. Wir haben uns mehr als vierzig Jahre gekannt, und er war einer der ganz wenigen Großregisseure und Starintendanten, mit denen man sogar als Kritiker mehr als nur im oberflächlichen Bussi-Business befreundet sein konnte. Natürlich gehörte auch Flimm zu den (meist männlichen) Alphatieren seiner Zunft, war ein Mann der Macht. Doch lebte in ihm der ursprünglich rebellische Juso ein stückweit fort, er blieb berührbar, empfand manche Privilegien und Gagen der öffentlich subventionierten Betriebe als verrückt und dachte verantwortungsvoll, als er im Bühnenverein einen nach Gustaf Gründgens benannten Deutschen Theaterpreis verhinderte. Obwohl Gründgens kein Nazi war, könne man eine solche Auszeichnung nicht mit dem Namen dessen verbinden, der einst als Görings Günstling in Berlin bis 1945 als Generalintendant amtiert hatte.

Flimm war immer auch ein kameradschaftlicher Freund der Bühnentechniker und aller Mitarbeitenden am Theater, die sonst nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Wer je ein Flimm-Theater betrat, konnte sogleich den herzlichen Geist des Hauses spüren. Und gegen jegliche Krisen und alle Trauer der Welt liebte er die Leonore, die im „Fidelio“ singt: „Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen.“

Jürgen Flimm mit seiner Ehefrau Susanne 2008 beim Hamburger Filmfest.
Jürgen Flimm mit seiner Ehefrau Susanne 2008 beim Hamburger Filmfest.

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